Berlin 32-Jähriger muss wegen rechtsextremer Drohmails vor Gericht

Polizeieinsatz nach Bombendrohung am Oberlandesgericht Jena (Januar 2019): 32-Jähriger muss vor Gericht
Foto: WichmannTV/ dpaDie "nationalsozialistische Revolution" habe begonnen, heißt es in einer Mail an die Universität Lübeck. Der Absender nennt sich "Nationalsozialistische Offensive" und prangert eine linke Mehrheit unter den Studierenden an. Er ist ein Vielschreiber.
Dutzende Mails verschickt die "Nationalsozialistische Offensive" zwischen Dezember 2018 und April 2019. Sie gehen an Gerichte, Polizeidienststellen, Rathäuser, an Politikerinnen und Politiker, Journalistinnen und Journalisten, an Hotels und Einkaufszentren im ganzen Land. Der Schreiber droht mit Sprengstoffanschlägen, er droht mit Mord oder kündigt an, die Polizei "unter Kontrolle" bringen zu wollen. Und er ist fixiert auf Helene Fischer. Er verspricht ein "Kopfgeld", wenn andere mit ihr tun, was er sich an sadistischen Gewaltfantasien ausmalt, und fordert die Sängerin auf, öffentlich zu erklären, wie sie zu Deutschland stehe.
Am Dienstag beginnt vor der 10. Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin der Prozess gegen André M. Der 32 Jahre alte Mann aus dem Kreis Pinneberg in Schleswig-Holstein soll die Drohmails verschickt haben. 107 Taten werden ihm zur Last gelegt, darunter 87 Bombendrohungen.
Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin hat ihn unter anderem wegen Anleitung zur Begehung schwerer staatsgefährdender Gewalttaten, wegen Störung des öffentlichen Friedens durch die Androhung von Straftaten, wegen schwerer Nötigung, versuchter räuberischer Erpressung und Bedrohung angeklagt. 25 Verhandlungstage hat die Kammer bis September terminiert. Eine Psychiaterin soll ein Gutachten zur Frage seiner Schuldfähigkeit erstellen. Seit April 2019 ist André M. in Untersuchungshaft.
Pose mit Hakenkreuzfahne
Die Generalstaatsanwaltschaft geht davon aus, dass André M. von der Errichtung einer "nationalen sozialistischen Ordnung" träumte. Die Ermittler fanden bei ihm Anleitungen zum Bau von Sprengvorrichtungen. Sie fanden auch Fotos. Auf einem Bild posiert André M. vor einer Hakenkreuzfahne. Schon in seiner Jugend soll er ein Faible für rechte Musik gehabt haben. Freunde sollen sich damals von ihm abgewandt haben, als ihnen seine rechten Äußerungen zu viel wurden. Das ist bekannt, weil André M. in seinem Heimatort wiederholt durch öffentlichkeitswirksame Straftaten aufgefallen ist.
Er soll die Schule ohne Abschluss verlassen haben, einen Beruf hat er nie erlernt. Mehrfach stand er schon vor Gericht, mehrfach wurde er verurteilt - unter anderem wegen Körperverletzung, Beleidigung, Brandstiftung, Sachbeschädigung und weil er mit einem Freund einen Zigarettenautomaten mit selbst gemischtem Sprengstoff in die Luft gejagt und auf der Internetseite seiner Heimatgemeinde eine Anleitung zum Bombenbau veröffentlicht hat. André M. saß bereits mehrere Jahre im Gefängnis und in der forensischen Psychiatrie.
Mit einem Kumpel soll er im Herbst 2007, da war er 19, über einen Anschlag auf ein Apfelfest in seiner Heimat fantasiert haben. Zutaten, um Sprengstoff herzustellen, hatten sie schon. Den Richtern fehlte damals der Beweis, dass André M. und sein Freund ernsthaft einen Anschlag geplant hatten. Vom Vorwurf der Verabredung zum Mord wurden sie freigesprochen, wegen anderer Delikte verurteilt. Das Gericht ordnete für André M. die Unterbringung in einer forensischen Klinik an.
Er wurde in der Vergangenheit wiederholt psychiatrisch begutachtet. Mal galt er wegen einer Persönlichkeitsstörung als vermindert schuldfähig, mal als psychisch auffällig, aber voll schuldfähig. Ein Gutachter hielt ihn für einen Psychopathen, der genau wisse, was er tue.
Mehrere Gerichte wurden geräumt
Erst im Oktober 2018 wurde André M. zuletzt aus der Haft entlassen. Noch im selben Monat soll er laut Anklage die nächsten Straftaten geplant haben. Im Dezember 2018 soll er nach Überzeugung der Generalstaatsanwaltschaft dann begonnen haben, unter dem Namen "Nationalsozialistische Offensive" Drohmails zu verschicken.
Im Januar 2019 wurden das Justizzentrum in Potsdam, das Justizzentrum in Wiesbaden, das Landgericht Erfurt, das Landgericht Magdeburg und das Landgericht Kiel geräumt, weil die "Nationalsozialistische Offensive" gedroht hatte, einen Sprengsatz zu zünden. Spürhunde kamen zum Einsatz, Sprengstoff wurde nicht gefunden. Wurden Gerichte nicht geräumt, beschwerte sich der Absender in weiteren Mails über die ausbleibende Reaktion. Das Landgericht Berlin zum Beispiel reagierte gar nicht. Die Drohmail wurde dort erst 17 Tage nach Eingang entdeckt.
Auch die Linken-Bundestagsabgeordnete Martina Renner wurde bedroht. Der Absender kündigte an, Briefbomben zu verschicken, Rizin einzusetzen und Bürger öffentlich hinzurichten. Die Generalstaatsanwaltschaft wertet das als versuchte Nötigung in einem besonders schweren Fall. Martina Renner ist Nebenklägerin im Prozess, sie wird vertreten von Anwältin Kristin Pietrzyk aus Jena.
Verbündete im Darknet?
Es gibt zahlreiche ähnliche Mails, die nicht unter dem Namen "Nationalsozialistische Offensive" verschickt, sondern mit "Wehrmacht", "Elysium", "Staatsstreichorchester", auch "RAF" gezeichnet wurden. Auch der SPIEGEL erhielt Post. Die Generalstaatsanwaltschaft geht davon aus, dass es nicht André M. war, der die Mails unter diesen Tarnnamen geschrieben hat. Laut Anklage soll er sich jedoch mit dem Verfasser oder den Verfassern abgestimmt haben. Weil in manchen Schreiben von "Wehrmacht" und "Staatsstreichorchester" Bezug zu den Bombendrohungen der "Nationalsozialistischen Offensive" genommen wird, ist André M. in diesen Fällen als Mittäter angeklagt.
In einigen Mails taucht auch die Bezeichnung "NSU 2.0" auf. Mit den Drohungen, die per Fax an die Frankfurter Anwältin Seda Basay-Yildiz gingen und ebenfalls mit "NSU 2.0" unterzeichnet waren, sollen sie allerdings nichts zu tun haben.
André M. und "Wehrmacht" kennen sich möglicherweise aus dem Darknet-Forum "Deutschland im Deep Web" (DiDW). Der Münchner Attentäter David Sonboly beschaffte sich dort seine Waffe. Und auch André M. soll dort laut Anklage unter dem Pseudonym "Sturmsoldat" aktiv gewesen sein, genauso wie "Wehrmacht". Die Behörden wissen noch nicht, wer hinter "Wehrmacht" steckt. Ob André M. es weiß, verrät er nicht.
Nach Angaben seines Verteidigers Thomas Penneke aus Rostock hat sich André M. zu den Vorwürfen bisher nicht geäußert. Weitere Fragen des SPIEGEL wollte die Verteidigung nicht beantworten.