Urteil gegen mutmaßlichen Drohmail-Schreiber »Er wollte schocken«

Angeklagter André M. vor dem Kriminalgericht Moabit in Berlin
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»Herr M., lassen Sie sich behandeln!« Ganz am Ende der Urteilsverkündung appelliert der Vorsitzende Richter noch einmal eindringlich an den Angeklagten. Wenn André M. sich in der forensischen Psychiatrie nicht behandeln lasse, werde er »leider sehr lange drin bleiben müssen«, gibt der Richter dem 32-Jährigen am Montag mit auf den Weg.
Die 10. Große Strafkammer des Landgerichts Berlin hat keinen Zweifel daran, dass André M. eine Gefahr für die Allgemeinheit ist. »Wir sind sicher, dass der Angeklagte höchst gefährlich ist«, sagt der Vorsitzende Richter Thorsten Braunschweig. »Wir sind davon überzeugt, dass wirklich schlimmste Straftaten drohen, wenn er sich nicht behandeln lässt.« André M. habe einen ausgeprägten »Hass auf sich selbst, auf Menschen, eigentlich auf alles«. »Er hat nichts zu verlieren«, sagt Richter Braunschweig. »Wir sind sicher, dass Schlimmes passiert, wenn er jetzt wieder auf die Straße käme.«
André M. hat nach Überzeugung der Kammer zwischen Dezember 2018 und April 2019 unter dem Namen »Nationalsozialistische Offensive« bundesweit Drohmails unter anderem an Gerichte, Behörden, Polizeidienststellen, Einkaufzentren, Medien und Mitglieder des Bundestages verschickt. Der Angeklagte habe mit seinen menschenverachtenden, antisemitischen und rassistischen Äußerungen die Bevölkerung beunruhigen und das demokratische System der Bundesrepublik angreifen wollen. »Er wollte schocken.«
Wegen Störung des öffentlichen Friedens in Tateinheit mit vollendeter und versuchter Nötigung in 26 Fällen und wegen versuchter Nötigung in neun Fällen hat das Gericht André M. zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Die Kammer hat zugleich seine Unterbringung in der forensischen Psychiatrie angeordnet. Aufgrund einer schweren Persönlichkeitsstörung sei André M. im Tatzeitraum nur vermindert schuldfähig gewesen. Sollte das Urteil rechtskräftig werden, wird André M. damit auf unbestimmte Zeit in einer Klinik des Maßregelvollzugs bleiben müssen.
Sadistische Gewaltfantasien über Helene Fischer
Die »Nationalsozialistische Offensive« drohte mit Erschießungen, Sprengstoffanschlägen und der qualvollen Tötung von Mädchen. Die Hassmails enthielten auch sadistische Gewaltfantasien über die Sängerin Helene Fischer. In einigen Mails forderte der Verfasser Helene Fischer auf, keine deutschen Lieder mehr zu singen, andernfalls würden Menschen sterben.
Das Gericht hat keinen Zweifel daran, dass André M. die Drohmails verfasst hat. Ein IT-Experte der Polizei hat auf seinem Computer Fragmente einiger Drohmails entdeckt. Eine linguistische Gutachterin hat Stil, Wortwahl, Schreib- und Grammatikfehler der Drohungen mit Schreiben von André M. verglichen. Auch sie ist zu dem Ergebnis gekommen, dass André M. die Mails der »Nationalsozialistischen Offensive« geschrieben hat. Als André M. im April 2019 festgenommen wurde, brach die Drohserie ab.
Die Bombendrohungen lösten Polizeieinsätze und die Evakuierung von Gerichten, Rathäusern und Bahnhöfen aus. Der Bahnverkehr wurde eingestellt, ein Flugzeug blieb nach einer Drohung am Boden. Die Kammer wertet diese Fälle als vollendete Nötigung. Andere Fälle, in denen derartige öffentlichkeitswirksame Reaktionen ausblieben, weil die Empfänger die Schreiben nicht ernst nahmen, hat das Gericht als versuchte Nötigung gewertet. Die Richterinnen und Richter sind davon überzeugt, dass André M.s Tötungsfantasien ernst zu nehmen sind.
André M., 32, ist ein abgemagerter, schwarz gekleideter Mann mit aschblondem Haar, das er zu einem Pferdeschwanz gebunden hat. Bis zu seiner Inhaftierung lebte er bei seinen Eltern in Halstenbek bei Hamburg. Die Wände seines Zimmers hat er über und über mit NS-Devotionalien behängt.
Starke Affinität zum Rechtsextremismus
Das Haus hatte er zuletzt kaum noch verlassen. Seine Tage verbrachte er vor dem Computer. André M. sammelte Bilder mit sexualisierten Gewaltdarstellungen, interessierte sich für den Bau von Waffen und die Herstellung von Sprengstoff und bewegte sich mit Vorliebe im Darknet, dem verborgenen Teil des Internets.
André M. sei kein durchschnittlicher Angeklagter, sagt der Richter. André M. habe eine starke Affinität zum Rechtsextremismus, zu Waffen und Sprengstoff und leidet unter zahlreichen Ängsten.
Aus Angst, sich zu übergeben, nimmt André M. kaum Nahrung und Flüssigkeit zu sich. Es gab Verhandlungstage, da konnte er sich nur noch mit Mühe und extrem verlangsamt bewegen. Zuletzt war er noch maximal zwei Stunden pro Tag verhandlungsfähig. Mehr ließ sein körperlicher Zustand nicht zu.
Im Alter von acht Jahren wurde bei André M. ein gutartiger, nicht operabler Tumor entdeckt. Als Kind verbrachte er mehrere Monate im Krankenhaus. Die Krankheit hat das Leben des Angeklagten nach Überzeugung des Gerichts »in erheblicher Weise« geändert. Fortan habe er jede körperliche Anstrengung vermeiden und Fußball, Karate und Leistungsturnen aufgeben müssen. In der Schule sei er von seinen Mitschülern gehänselt worden. »Er entwickelte Gewaltfantasien gegenüber seinen Mitschülern, die er auch auslebte.« Einem Jungen schlug er einen Stein auf den Kopf, einen anderen malträtiert er mit Stacheldraht.
André M. brach die Schule nach der siebten Klasse ab, lernte nie einen Beruf und verbrachte wegen Sachbeschädigung und Körperverletzung bereits mehrere Jahre im Gefängnis und in der Psychiatrie. »Er beging immer wieder weitere Straftaten, die immer heftiger wurden«, sagt der Richter.
Zuletzt kam er im Oktober 2018 frei. Kurz danach lernte er bei Facebook eine Frau kennen. Die beiden kommunizierten bald täglich miteinander, verbrachten über Monate ganze Tage damit, sich via Sprachnachrichten auszutauschen. Sie verliebten sich ineinander und führten nach Ansicht des Gerichts eine Art Beziehung, »obwohl sie sich nie getroffen haben«. Es war die Zeit, in der André M. schließlich begann, Drohmails zu verschicken.
Seine Amokfantasien teilte André M. der Freundin mit. Die Kammer ließ Dutzende seiner Sprachnachrichten im Prozess vorspielen. André M. spricht darin von seinem Hass und seinem Wunsch, sich und andere zu töten.
Die Verteidigung tat die Tötungsfantasien als Spinnerei ab. Die Sprachnachrichten seien bloß Spaß gewesen. Das Gericht widerspricht. »Das war alles andere als nur sinnloses Geplapper«, stellt Richter Braunschweig fest: »Das war kein Spaß, das war Ernst.«
André M. bestreitet, die Drohmails verfasst zu haben. »Man sollte in den Ermittlungsbehörden schauen, wo der Täter wirklich ist«, sagt er am Montag in seinem Letzten Wort. Er will den Verdacht offenbar auf den sogenannten NSU 2.0 lenken. Der »NSU 2.0« schickte unter anderem Drohschreiben an die Frankfurter Anwältin Seda Basay-Yildiz. Die Schreiben enthielten private Daten der Anwältin, die zuvor von einem hessischen Polizeicomputer abgerufen worden waren. Das Gericht konnte André M. damit nicht überzeugen.
Die Verteidigung hatte Freispruch für ihren Mandanten gefordert. Staatsanwaltschaft und Nebenklage beantragten eine Freiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten und die Unterbringung in der Psychiatrie. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
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