Prozess gegen mutmaßlichen Mädchenmörder Vorliebe fürs Würgen

Der Angeklagte vor Gericht (Archivbild)
Foto: Olaf Wagner / imago imagesRechtsmediziner Michael Tsokos sagt es in aller Deutlichkeit. Das Mädchen wurde erwürgt. Es gibt keinerlei Hinweise auf einen epileptischen Anfall. Die 15-Jährige starb, weil Bekim H. ihr in der Nacht auf den 5. August 2020 an der Rummelsburger Bucht in Berlin minutenlang den Hals zugedrückt hat. Mit einem angeblichen »Liebesspiel«, wie es der Angeklagte über seine Verteidiger darstellte, sei das massive Verletzungsbild am Körper der Toten »mit Sicherheit nicht« in Einklang zu bringen. »Es ist offensichtlich, dass das Opfer sich gewehrt hat.« Das Mädchen müsse »Todesangst« erlitten haben.
Die 32. Große Strafkammer des Landgerichts Berlin hat Rechtsmediziner Tsokos an diesem Donnerstag auf Antrag der Verteidigung gehört. Die Verteidigung hatte darüber spekuliert, dass das Mädchen während eines einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs an einem epileptischen Anfall gestorben sein könnte. Die Verteidigung reagierte mit dieser Theorie auf die Ausführungen eines anderen Rechtsmediziners. Dessen Gutachten hatte mehr Fragen aufgeworfen als Antworten geliefert. Jener Rechtsmediziner sah am Körper des Mädchens weder Abwehrverletzungen, noch eindeutige Hinweise auf eine Vergewaltigung.
Eindeutige Zeichen
Rechtsmediziner Tsokos sieht das anders. Er spricht von »Fixierungsverletzungen an den Handgelenken« und von einem langen Kratzer am Oberkörper, der »typisch« sei, »wenn Oberbekleidung runtergerissen wird und die Fingernägel hängenbleiben«. Eine ähnliche Verletzung gebe es am Unterkörper. Für Tsokos sind das eindeutige Zeichen, dass die Schülerin gegen ihren Willen festgehalten und entkleidet wurde. Von der Verteidigungstheorie des einvernehmlichen Sex bleibt nach seiner Aussage nichts mehr übrig.
Im Anschluss erstattet Psychiaterin Dagny Luther ihr Gutachten. Es geht um die Frage der Schuldfähigkeit und der Gefährlichkeit des Angeklagten.
Bekim H. hatte bereits 2001 eine 68-jährige Frau brutal misshandelt und vergewaltigt. Aufgrund einer schweren Persönlichkeitsstörung kam er in die forensische Psychiatrie. Erst im Juni 2014 wurde er zur Bewährung aus dem Maßregelvollzug entlassen, entgegen dem Rat der Klinik.
In Freiheit kümmerte sich ein Netzwerk aus Fachleuten um ihn. Er stand unter Führungsaufsicht, wurde weiterhin forensisch-therapeutisch behandelt, durfte weder Alkohol noch Drogen konsumieren und bekam eine Sozialarbeiterin als Betreuerin. Und trotzdem stirbt im August 2020 ein Mädchen. Was ist da schiefgelaufen? Das hat sich auch Psychiaterin Luther gefragt.
Eine Antwort könnte in dem komplexen Störungsbild des Angeklagten liegen.
Bekim H. hatte eine alkoholkranke Mutter
Erst 2015, nach seiner Entlassung aus der Klinik, wurde bei Bekim H. das sogenannte Klinefelter Syndrom festgestellt, eine angeborene Chromosomenabweichung. Bekim H. hat ein Geschlechtschromosom mehr als andere Männer, XXY statt XY. Und noch später, 2019, gab es den Verdacht, dass bei ihm zusätzlich das fetale Alkoholsyndrom vorliegen könnte. Ein Verdacht, den Psychiaterin Luther nun bestätigt. Bekim H.s alkoholkranke Mutter trank auch während der Schwangerschaft, was zu einer Schädigung des Gehirns ihres Sohnes geführt hat.
Bei Bekim H. liege damit eine angeborene organische Persönlichkeitsstörung vor. Betroffene leiden häufig unter Unruhe- und Spannungszuständen und können ihre Impulse nur schwer kontrollieren. Hinzu komme bei Bekim H. eine Psychopathie, eine extreme Form der dissozialen Persönlichkeitsstörung, die sich bei ihm schon in jungen Jahren entwickelt habe.
Geistig und körperlich »deutlich zurückgeblieben«
Bekim H. wuchs in desolaten Verhältnissen auf. Seine Mutter trank nicht nur, sondern schlug auch zu. Sein Vater verließ früh die Familie. Bekim H. kam ins Heim, in eine Pflegefamilie, wieder ins Heim. Schon als Kind war er auffällig. Laut Gutachterin war er körperlich wie geistig »deutlich zurückgeblieben«. Noch heute sieht der 42-Jährige deutlich jünger aus, als er ist.
In der Schule kam Bekim H. nicht mit. Er akzeptierte keine Grenzen, bedrohte andere Jugendliche und versuchte, mangelndes Selbstwertgefühl durch gewaltbereites Verhalten zu kompensieren. Früh kam er mit dem Gesetz in Konflikt. Luther zählt Betrügereien, Fahren ohne Fahrerlaubnis und Diebstähle auf. Sein Leben habe überwiegend aus Party und der Befriedigung spontaner Bedürfnisse bestanden. »Das ist dissoziales Leben.«
2001 beging Bekim H. dann sein erstes schweres Sexualdelikt und kam in den Maßregelvollzug. Dort fiel Bekim H. weiterhin durch provokantes Verhalten und Aggressivität gegen sich und andere auf.
Bekim H. strebe danach, Macht auszuüben, sagt die Psychiaterin. Das habe sich bei der Vergewaltigung der 68-Jährigen gezeigt, das komme auch in seinen späteren Beziehungen durch seine Vorliebe fürs Würgen und für Sex mit Schlafenden zum Ausdruck.
Voll schuldfähig
Dennoch kommt die Psychiaterin zu dem Ergebnis, dass Bekim H. trotz aller Störungen voll schuldfähig war, als es in der Nacht auf den 5. August 2020 zu der verhängnisvollen Begegnung mit dem Mädchen gekommen ist. Seine Steuerungsfähigkeit sei keineswegs eingeschränkt gewesen.
Dass Bekim H. wusste, was er tat, und dass er Herr seines Verhaltens war, zeige vor allem sein Nachtatverhalten. Er versteckte die Leiche des Mädchens im Gebüsch, vergrub die auffällige Jacke der Schülerin, nahm ihr Handy mit und entfernte die SIM-Karte, was eine Ortung unmöglich machte. Dann versteckte er das Handy in seiner Wohnung unter der Abdeckung eines Heizkörpers. Damit droht Bekim H. nun eine lebenslange Gefängnisstrafe und keine erneute Unterbringung in der Psychiatrie.
Die Gutachterin sieht bei Bekim H. zudem ein hohes Rückfallrisiko. Die Gefahr, dass er auch in Zukunft schwere Straftaten verübe, sei aufgrund seiner psychopathischen Persönlichkeitsstörung hoch.
Aufgrund seiner psychopathischen Persönlichkeit sei es ihm trotz eines IQ von 77 immer wieder gelungen, Menschen zu täuschen und zu manipulieren. So habe er es auch geschafft, nach der Entlassung aus der Klinik seine Betreuerin für seine Zwecke zu instrumentalisieren.
Die Betreuerin hatte im Prozess als Zeugin ausgesagt. Dass Bekim H. nach seiner Entlassung aus der Psychiatrie weder trinken noch Drogen nehmen durfte, wusste die 61-Jährige. Sie wusste auch, dass er beides trotzdem tat. Verraten hat sie ihn nicht. »Warum nicht?«, hatte Psychiaterin Luther sie gefragt. »Zum Schutz«, sagte seine Betreuerin. Sie habe gedacht, dass sie »das Thema« mit ihm gemeinsam bearbeiten könnte.
»Das hat mich wirklich schockiert«
»Wie hat er das geschafft, dass Sie Ihre Hand schützend über ihn gehalten haben?«, hatte Luther weiter gefragt. »Ich habe gesehen, wie bemüht er war, im Leben anzukommen«, sagte die Zeugin. »Hat er Ihnen mal vermittelt, dass Sie für ihn die ideale Mutter sind, die er nie gehabt hat?«, fragte die Psychiaterin. Die Sozialarbeiterin zögerte einen Moment. »Ja, schon«, sagte sie dann. Bekim H.s Fähigkeit zur Manipulation hat die Frau offenbar übersehen.
Die Betreuerin geriet vor Gericht ins Schwärmen. Sie beschrieb Bekim H. »als absolut liebenswerte Persönlichkeit«. Er ertrage es nicht, wenn Kindern Unrecht widerfahre, und er habe »eine absolute Achtung vor dem Alter«. Ob sie wisse, wie alt die Frau gewesen sei, die er 2001 vergewaltigt habe, hatte die Psychiaterin nachgehakt. Sie wusste es. »Eine ältere Frau«, antwortete sie leise – und räumte ein, dass sie diese Tat bei ihrer Arbeit mit ihm ausgeblendet habe.
Gutachterin Luther macht der Betreuerin an diesem Donnerstag schwere Vorwürfe. Sie hätte die frühere Vergewaltigung keineswegs »ausblenden« dürfen. Und sie hätte seinen Drogen- und Alkoholkonsum nicht verschweigen dürfen, sondern Alarm schlagen müssen. »Sie hat die Risikofaktoren noch verstärkt, indem sie sie toleriert und gedeckt hat«, sagt Luther. »Das hat mich wirklich schockiert. Da fehlen mir die Worte.«