Verteidiger plädieren im Ku'damm-Raser-Prozess Blanker Irrsinn, aber kein Mord

Ein Autofahrer starb, weil Hamdi H. und Marvin N. mit Tempo 160 durch die Berliner Innenstadt rasten. Strafbares Verhalten, befanden die Anwälte der Männer vor dem Berliner Landgericht. Aber kein Mord.
Marvin N. (2.v.l.) und Hamid H. (2.v.r.) mit Anwälten (Archivfoto)

Marvin N. (2.v.l.) und Hamid H. (2.v.r.) mit Anwälten (Archivfoto)

Foto: Annette Riedl/ dpa

Was Verteidiger Peter Zuriel zu Beginn seines Plädoyers im Ku'damm-Raser-Prozess am Landgericht Berlin erzählt, klingt wie ein Witz. Aber lustig findet es auch Zuriel nicht.

Er sagt: "Treffen sich drei verurteilte Mörder im Gefängnishof. Sagt der eine: 'Ich sitze hier, weil ich eine Frau vergewaltigt und sie anschließend erwürgt habe. Ich habe Lebenslang mit einem Mordmerkmal.' Sagt der zweite: 'Ich habe meinem Geschäftspartner bei einem Streit um Geld in den Kopf geschossen. Ich habe auch ein Mordmerkmal.' Fragen die beiden ersten den dritten: 'Was ist mit dir?' Dieser sagt: 'Ich bin mit meinem Audi mit 160 Kilometern pro Stunde über den Ku'damm gefahren, habe dabei eine rote Ampel überquert und jemanden totgefahren. Ich wollte das nicht, ich wusste nicht, dass dieser Mensch in diesem Augenblick die Kreuzung überquert, ich habe ihn nicht einmal gesehen. Ich wollte nicht einmal einen Unfall. Ich habe drei Mordmerkmale.'"

Der dritte Mann in Zuriels Anekdote ist sein Mandant, Hamdi H. In der Nacht zum 1. Februar 2016 hat sich der heute 30-Jährige mit seinem Bekannten Marvin N., 27, ein Autorennen über den Berliner Kurfürstendamm und die Tauentzienstraße geliefert.

Sie rasten mit bis zu Tempo 160 über rote Ampeln. Der Audi von Hamdi H. kollidierte schließlich mit dem Jeep von Michael Warshitsky. Warshitsky starb. Die Staatsanwaltschaft hat in ihrem Plädoyer beantragt, Marvin N. und Hamdi H. wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe zu verurteilen.

"Ein Phänomen, aber kein Vorsatz"

"Dieser Fall ist bisher einzigartig in seiner Brisanz und geht ins Mark", sagt Verteidiger Zuriel. "Keiner wird ernsthaft behaupten wollen, dass es nicht blanker Irrsinn ist, mit 160 Kilometern pro Stunde durch eine Innenstadtstraße zu fahren." Er bittet die Richter, mit Augenmaß zu urteilen. "Je höher die Seele kocht, desto mehr ist es Aufgabe des Gerichts, die Ruhe der Gerechtigkeit zu wahren und etwaigen öffentlichen Reaktionen auf ein Urteil gelassen entgegenzusehen."

In einem ersten Urteil waren die Angeklagten wegen Mordes verurteilt worden. Der Bundesgerichtshof hob das Urteil wegen Rechtsfehlern auf und verwies den Fall an eine andere Kammer des Landgerichts. Dort scheiterte das Verfahren nach einem erfolgreichen Befangenheitsantrag, der Prozess begann zum dritten Mal - nun vor der 32. Strafkammer.

Hamdi H. habe nicht vorsätzlich getötet, sagt Anwalt Zuriel. "Raser glauben wirklich an die eigene Unfehlbarkeit und daran, in jedem Fall Unfälle vermeiden zu können." Das sei "ein Phänomen, aber kein Vorsatz". Er beantragt, Hamdi H. wegen fahrlässiger Tötung in Tateinheit mit einem gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr zu verurteilen. Er bittet das Gericht, den Haftbefehl aufzuheben, da sein Mandant bereits seit drei Jahren in Untersuchungshaft ist.

Anwalt spricht von "populärpolitischem Pilotprojekt"

Sehr viel deutlicher wird Rainer Elfferding in seinem Plädoyer für Marvin N. Der Staatsanwaltschaft wirft er vor, ein "populärpolitisches Pilotprojekt" zu betreiben, mit dem Ziel, auf Biegen und Brechen eine Verurteilung wegen Mordes zu erreichen.

Laut Gutachten hatte Marvin N. 80 bis 90 Meter vor der roten Ampel an der Kreuzung, an der es zum Unfall kam, die letzte Chance, noch rechtzeitig zu bremsen, um an der roten Ampel zum Stehen zu kommen. Sein Mandant aber habe sich geirrt und gedacht, er schaffe es sowieso nicht mehr. "Wer nicht erkennt, dass er noch rechtzeitig bremsen kann, handelt nicht vorsätzlich", sagt Elfferding. "Das ist kein Vorsatz, auch kein bedingter."

Ohne Vorsatz könne es nicht um die Frage Mord oder Totschlag gehen. Elfferding sagt auch: "Kein einziges Mordmerkmal liegt zweifelsfrei vor." Nicht Heimtücke, keine niedrigen Beweggründe, die Autos von Hamdi H. und Marvin N. könnten auch nicht als gemeingefährliche Mittel gelten.

Verteidigung sieht fahrlässige Tötung

Den allermeisten Menschen sei bewusst, dass Menschen in Gefahr seien, wenn man mit 160 Kilometern pro Stunde über den Ku'damm rase. Daraus könne aber nicht geschlossen werden, dass Marvin N. und Hamdi H. das auch gewusst hätten. Die beiden hätten in ihrer eigenen Welt gelebt, einer Welt der grenzenlosen Selbstüberschätzung.

Hamdi H. habe demnach keinen Mord begangen, sagt Elfferding. Und ohne Mord könne Marvin N. nicht als Mittäter verurteilt werden. Hamdi H. habe Michael Warshitsky fahrlässig getötet. Doch eine Mittäterschaft bei diesem Delikt kenne die Rechtsprechung nicht. "Marvin N. kann weder wegen Mordes noch wegen Totschlags noch wegen fahrlässiger Tötung verurteilt werden."

Der Verteidiger blickt zu dem Sohn des Getöteten. Maximilian Warshitsky ist Nebenkläger im Prozess. "Marvin N. kann juristisch nichts für den Tod von Michael Warshitsky. Das ändert nichts daran, dass er sich moralisch mitschuldig fühlt."

Im Video: Illegale Raserei in Berlin - Straßenrennen mit Todesfolge

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Marvin N. habe sich allein der Gefährdung des Straßenverkehrs und der fahrlässigen Körperverletzung schuldig gemacht, sagt dessen zweiter Verteidiger, Enrico Boß, nach der Mittagspause. Im Auto von Marvin N. saß dessen Freundin. Sie wurde verletzt, weil Hamdi H. mit seinem Auto nach der tödlichen Kollision das Auto von Marvin N. rammte. Wäre Marvin N. nicht gerast, hätte sie sich nicht verletzt, sagt Boss. "Ein Lebenslang wegen Mordes, wie von der Staatsanwaltschaft gefordert, schießt übers Ziel hinaus." Er plädiert für eine Freiheitsstrafe von drei Jahren, der Haftbefehl sei aufzuheben.

Maximilian Warshitskys Platz ist leer. Der Sohn des Opfers ist nach der Pause nicht in den Saal zurückgekehrt. So bekommt er nicht mit, wie sich Hamdi H. und Marvin N. nacheinander für ihre letzten Worte erheben. Sie gucken dorthin, wo der Sohn all die Verhandlungstage gesessen hat.

"Ich wollte mich bei dem Sohn entschuldigen, bei der Familie, ich wollte mich bei allen entschuldigen", sagt Hamdi H. Er sucht nach Worten. "Ich würde die Sache gerne ungeschehen machen. Das kommt von Herzen, unabhängig von der Strafe." Er sagt auch: "Ich würde dem Sohn gerne ins Gesicht gucken, aber er ist nicht da."

"Was in dieser Nacht passiert ist, hätte auf keinen Fall passieren dürfen", sagt auch Marvin N. Dann bittet er das Gericht um ein gerechtes Urteil. Die Kammer will es am 26. März verkünden.

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