Berliner U-Bahn-Überfall Wo kein Warnschuss nützt
Hamburg - Markus P. sitzt im Berliner U-Bahnhof Friedrichstraße. Es ist Samstag, 3.30 Uhr. Der 29-jährige Installateur aus Tempelhof hat mit Freunden den Abend verbracht, er ist müde und wartet auf die U6.
Durch denselben Bahnhof zieht Torben P. mit seinem Kumpel. Der 18-Jährige bepöbelt laut Polizei Passanten, sucht Streit. Auf dem Bahngleis steuert er unbeirrt auf Markus P. zu, beschimpft den 29-Jährigen, provoziert ihn. Vermutlich mit einer Bierflasche streckt er ihn zu Boden. Mit voller Wucht tritt er ihm gegen den Kopf, tänzelt zurück, nimmt Anlauf - und tritt erneut zu. Mehrfach. Nur weil ein 21-Jähriger Zivilcourage beweist und dem bewusstlosen Mann zu Hilfe eilt, lässt der 18-Jährige von seinem Opfer ab. Eine Frau wählt den Notruf. Der Freund des Schlägers attackiert noch den 21-jährigen Helfer, dann fliehen die beiden Jugendlichen.
Es ist das erste Mal, dass Torben P. zugeschlagen hat. Zumindest das erste Mal, dass die Polizei es mitbekommen hat. Der 18-Jährige stammt aus gutem Hause, der Vater ist Jurist. Mit seiner Familie lebt er in Heiligensee, besucht die elfte Klasse der Bettina-von-Arnim-Oberschule in Reinickendorf. Am Samstagabend erscheint Torben P. in Tegel auf der Polizeiwache, stellt sich, räumt die Tat umfassend ein.
Vermutlich gestand er, weil eine Überwachungskamera seinen brutalen Angriff aufgezeichnet und die Polizei den Film zur Fahndung veröffentlicht hatte. Die Bilder sind erschütternd. Sie dokumentieren einen Gewaltexzess mitten im Stadtzentrum, nicht an einem sozialen Brennpunkt, nicht in einer dunklen Gasse, nicht in einem Rotlichtviertel. Passanten beobachten den Angriff, viele schreiten nicht ein. Eine Reinigungskraft schiebt einen Wagen über den Bahnsteig. Das Video hat viele Facetten, die sprachlos machen.
Und es dokumentiert, wie ein laut Akten bislang unauffälliger Jugendlicher die Beherrschung verliert. Wie geht man mit solch einem jungen Menschen um?
Die Union nutzt den Vorfall, um die längst angekündigte Einführung einer Gesetzesverschärfung zu beschleunigen: den Warnschussarrest - eine kurze Haftstrafe für Jugendliche, die neben einer Bewährungsstrafe verhängt werden soll.
Im Klartext: Ein jugendlicher Täter soll zeitnah zu seinem Vergehen spüren, was es bedeutet, im Gefängnis zu sitzen. Damit will die Koalition die Möglichkeit schaffen, parallel zur Bewährung einen Arrest zu verhängen. Nach bisheriger Rechtslage ist nur eines von beiden möglich. Der Arrest kann für die Freizeit des Jugendlichen verhängt werden oder zusammenhängend für maximal vier Wochen.
Ein entsprechender Gesetzentwurf wurde am 26. Oktober 2009 im Koalitionsvertrag vereinbart. "Er ist noch in Arbeit, ein konkreter Termin ist offen", sagt Mareke Aden, Sprecherin des Bundesjustizministeriums. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger will demnach das Jugendstrafrecht verschärfen und einen Warnschussarrest ermöglichen.
Ging Torben P. bislang gewaltfrei durchs Leben?
Doch im Fall Torben P. hätte ein Warnschussarrest nicht angewendet werden können. Der 18-Jährige ist polizeilich bislang nicht in Erscheinung getreten. Gegen ihn wurde Haftbefehl wegen versuchten Totschlags erlassen. Gegen Auflagen erhielt er aber Haftverschonung bis zum Prozess. Er ist zu Hause bei seinen Eltern, dreimal pro Woche muss er sich bei der Polizei melden.
Für die Politik scheint dieser Punkt zweitrangig: Der Fall Torben P. muss nun herhalten, um den angekündigten Warnschussarrest endlich durchzusetzen.
Im aktuellen Fall sieht die bisherige Gesetzlage vor, dass Torben P. eine Jugendstrafe bekommt, die zur Bewährung ausgesetzt wird. Sein Mitläufer erhält wegen geringerer Schuld Arrest, keine Jugendstrafe. "Formal betrachtet hat der Haupttäter zwar die härtere Strafe bekommen, den Freiheitsentzug aber erleidet der Mitläufer", sagt Wolfgang Bosbach. Der CDU-Innenpolitiker gilt als Verfechter des Warnschussarrestes. "Ich glaube, viele jugendliche Straftäter ahnen nicht, was Freiheitsentzug tatsächlich bedeutet. Sie haben eine abstrakte Vorstellung davon, wenn der Richter lediglich droht: 'Das nächste Mal kommst du ins Gefängnis'." Der Warnschussarrest als "Gelbe Karte" habe eine "beeindruckende Wirkung", so Bosbach.
Was ist die Alternative? Ein Erziehungsgespräch?
Den Vorwurf, ein Arrest würde die kriminelle Karriere betroffener Jugendlicher vorantreiben, weist Bosbach zurück. In der Regel käme ein Warnschussarrest nur in Betracht, wenn der Beschuldigte bereits straffällig in Erscheinung getreten sei und eine erhebliche Tat wie beispielsweise einen Diebstahl begangen habe, aber dennoch keine Jugendstrafe vollstreckt werden müsse, da er lediglich einen Schokoriegel geklaut habe. Ähnlich absurd sei die Kritik, dass nach einer vollstreckten Jugendstrafe die Rückfallquote besonders hoch sei. "Was ist denn die Alternative?", fragt Bosbach. "Ein richterliches Erziehungsgespräch etwa? Eine Geldstrafe?"
Auch Hans-Christian Ströbele sucht nach Lösungen. Der Bundestagsabgeordnete der Grünen nutzt den U-Bahnhof Friedrichstraße selbst oft zu später Stunde, um mit seinem Fahrrad nach Hause zu fahren. "Wie in vielen Bahnhöfen ist dort ab einer gewissen Zeit kein uniformiertes Personal mehr anzutreffen. Wäre das der Fall gewesen, wäre es nicht zu diesem Vorfall gekommen", vermutet Ströbele. "An solchen Orten Personal abzubauen, ist falsch."
Ströbele, seit mehr als 30 Jahren Strafverteidiger, warnt vor der Einführung eines Warnschussarrests. "Wenn jugendliche Gewalttäter ins Gefängnis müssen, kommen sie meistens nicht besser raus", sagt der 71-Jährige. "Es gibt Statistiken, die eindeutig belegen, dass diejenigen, die eine Bewährungsstrafe bekommen, nach der Verurteilung wesentlich seltener straffällig werden als die, die im Jugendgefängnis saßen."
Der Gedanke, straffällige Jugendliche kämen nach drei, vier Wochen im Knast zur Besinnung, liege nahe, sei aber falsch. "Viele von ihnen werden dort eher angestachelt und lernen Kriminelles", so Ströbele. Den Arrest anders als den Strafvollzug zu gestalten, werde immer wieder angekündigt, sei meist nicht bezahlbar.
Festnehmen, gestehen, verurteilen
Um ein Rückfallrisiko bei jugendlichen Straftätern zu minimieren, plädiert Ströbele für ein schnelles Verfahren: "Wenn sich ein Jugendlicher wie im aktuellen Fall stellt oder gefasst wird, gesteht und es Zeugen gibt, sollte in der Woche darauf ein Urteil gefällt werden." Als erfahrener Jurist weiß er, dass sechs Monate für einen Jugendlichen "eine sehr lange Zeit" sind. Oft verbinde der jugendliche Täter zum Zeitpunkt des Gerichtstermins die Tat nicht mehr mit der Strafe.
Der innenpolitische Sprecher der Unions-Bundestagsfraktion, Hans-Peter Uhl, ist zwar davon überzeugt, ein Warnschussarrest sei ein "gutes Warnsignal", ansonsten teilt er aber Ströbeles Meinung. "Wenn es in diesem Berliner Fall wieder erst in einigen Monaten zu einer Verhandlung kommt, lernen die Jugendstraftäter viel zu spät die Sanktionen des Staates kennen. Die Strafe muss auf dem Fuße folgen", sagt Uhl und fordert ebenfalls mehr "Präsenz uniformierten Personals" auf Bahnhöfen.
Zu dem aktuellen Fall hat Uhl eine klare Meinung: "Wenn ich die Bilder sehe, kann ich mir nur schwer vorstellen, dass dieser junge Mann bislang völlig gewaltfrei durchs Leben gegangen ist."
Uhl wirft eine rechtspolitische Idee in die aktuelle Debatte: Wer unter Ausnutzung der besonderen Verhältnisse des Nahverkehrs - also beispielsweise auf Bahnsteigen, in Wartehallen und Zügen - eine Straftat wie Körperverletzung oder Ähnliches begeht, sollte härter bestraft werden. "Ich könnte mir vorstellen, dass diese Maßnahme neue Hemmschwellen setzt." Der CSU-Politiker hatte einst vorgeschlagen, dass Gewalttaten gegen Personal des Öffentlichen Nahverkehrs (ÖPNV) ebenso hart bestraft werden müssten wie Gewalttaten gegen Polizeibeamte, Rettungskräfte und Feuerwehrleute. Die FDP verhinderte diesen Vorstoß.
Torben P. sagte in der Vernehmung bei der Polizei, er sei streitlustig und betrunken gewesen. Auf dem Überwachungsvideo ist nicht zu erkennen, ob er im Promillerausch agierte. Ein Grund mehr für Ströbele zu fordern, dass sich die Politik des Themas Alkohol annehmen sollte. "Ich hatte in den vergangenen Jahrzehnten als Rechtsanwalt viele schlimme Fälle zu bearbeiten. 90 Prozent davon ereigneten sich unter Alkoholeinfluss. Vielleicht sollte man endlich über ein öffentliches Alkoholverbot nachdenken", so Ströbele.