Nach SPIEGEL-Recherchen Bistum Münster schließt Beratungsstelle Organisierte sexuelle und rituelle Gewalt

Dom zu Münster: Leiterin der nun geschlossenen Beratungsstelle suggerierte einer Patientin wohl Missbrauchserinnerungen
Foto: IMAGO/Jürgen RitterDas Bistum Münster schließt mit sofortiger Wirkung seine Beratungsstelle Organisierte sexuelle und rituelle Gewalt. Das gab das Bistum am Montagabend in einer Pressemitteilung bekannt. Das Bistum reagiert damit auf einen Bericht des SPIEGEL, der vergangene Woche aufgedeckt hatte, dass die Leiterin der Beratungsstelle, die Psychotherapeutin Jutta Stegemann, in ihrer Praxis einer Patientin eingeredet hatte, dass sie Opfer satanischer ritueller Gewalt geworden sei. Für die Existenz von rituellem Missbrauch gab es jedoch keine Belege.
»In der Fachwelt, sowohl in der psychotherapeutischen als auch in der juristischen« sei »der professionelle Umgang mit dem Thema rituelle Gewalt umstritten«, teilte der Bischöfliche Beauftragte für die Ehe-, Familien- und Lebensberatung im Bistum Münster, Antonius Hamers, mit. »Es stehen hier Aussagen über die Existenz ritueller Netzwerke auf der einen Seite Aussagen der Nicht-Beweisbarkeit ritueller Gewalt auf der anderen Seite gegenüber. Es sind weder Theorien über rituelle Netzwerke belegt, noch konnte ritueller Missbrauch durch angeblich im Verborgenen organisierte Täterorganisationen nachgewiesen werden.« Die Fortführung der Beratungsstelle sei vor diesem Hintergrund »nicht mehr länger vertretbar«.
Schon kurz nach der Veröffentlichung der SPIEGEL-Recherche am vergangenen Freitag hatte das Bistum die Seite der Beratungsstelle im Internet gelöscht. Auch ein »Aufklärungsvideo« mit dem Titel »Im Namen des Teufels: Rituelle Gewalt in satanistischen Sekten«, das das Bistum im Jahr 2013 in Auftrag gegeben und später veröffentlicht hatte, war im Netz plötzlich nicht mehr auffindbar.
Leiterin der Beratungsstelle sprach ohne Belege von angeblicher »Mind Control«
Jutta Stegemann leitete die Beratungsstelle seit 2019, nach eigener Auskunft arbeitet die approbierte psychologische Psychotherapeutin seit 20 Jahren mit »Überlebenden ritueller Gewalt«. Einer ihrer Patientinnen, die dem SPIEGEL später von ihrer Erfahrung berichtete, redete sie nach einer traumatischen Trennung offenbar ein, sie sei jahrelang von einem satanischen Kult missbraucht worden. Stegemann behauptete gegenüber der Patientin, in ihr würden viele »Innenpersönlichkeiten« leben. Laut der Therapeutin sei diese Spaltung von den Tätern durch Hirnmanipulationen, sogenannte »Mind Control«, herbeigeführt worden.
Belege dafür, dass so etwas möglich ist, gibt es keine. Die Patientin verlor aufgrund von Stegemanns Behauptungen das Sorgerecht für ihr Kind.
Deutsche Gesellschaft für Psychologie kritisiert die Missbrauchsbeauftragte des Bundes
Neben dem Bistum Münster reagierte auch die Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGPs) auf die SPIEGEL-Recherche. In einer Stellungnahme kritisierte die DGPs am Montag ein Forschungsprojekt zu ritueller sexueller Gewalt, das vom Bundesfamilienministerium durch die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs gefördert worden war. Darin hatten Forschende angebliche Erinnerungen an rituelle Missbrauchserfahrungen nicht hinterfragt, sondern als Fakt hingestellt. Auch die angebliche »Mind Control« wurde als Tatsache behauptet.
»Diese Veröffentlichungen liefern keinen Beleg für die Existenz ritueller sexueller Gewalt in Deutschland«, teilte die DGPs in seiner Stellungnahme nun mit. »Zudem ergeben sich erhebliche begründete Zweifel an den darin getätigten Aussagen über psychologisch unplausible Phänomene wie Mind Control, Verdrängung und Wiedererinnern von traumatischen Erfahrungen oder die zielgerichtete Aufspaltung der Persönlichkeit«, hieß es weiter.
Auf dem offiziellen Hilfsportal der Missbrauchsbeaufragten des Bundes hatte bis vor Kurzem gestanden, die Aufspaltung der kindlichen Persönlichkeit »in mehrere Identitäten« sei möglich durch »planmäßig wiederholte Anwendung schwerer Gewalt« und von »Mind-Control-Methoden«. Nachdem der SPIEGEL im Dezember die Missbrauchsbeauftrage mit der Recherche konfrontiert hatte, waren diese Passagen verschwunden.
Die DGPs kritisiert nun, dass auf Webportalen, die vom Bundesfamilienministerium gefördert wurden, der allgemeine psychologische Wissensstand »nicht neutral und ausgewogen« dargestellt werde. »Aus diesem Grund plädieren wir für eine stärkere Evidenzbasierung in Diskussionen, medialer Berichterstattung, Beratungsangeboten und bei der Entwicklung von Handlungsempfehlungen zu diesem Thema.«