
Ehrenmorde in Deutschland: Tod im Namen der Ehre
BKA-Untersuchung Polizei analysiert Dutzende "Ehrenmord"-Fälle
Hamburg - Im März 2009 wird die 20-jährige Gülsüm S. von ihrem Vater und ihrem Bruder erschlagen. Mit Ästen und Holzstücken dreschen die Männer so brutal auf das Gesicht der jungen Frau ein, dass sie kaum identifiziert werden kann. Die Kurdin muss sterben, weil sie keine Jungfrau mehr ist. Weil sie ein Kind abtreiben ließ. Weil sie die Familie - aus deren Sicht - entehrt hat.
2005 starb Hatun Sürücü durch mehrere Kopfschüsse. Abgedrückt hatte ihr Bruder.
Wer sind die Täter? Was lässt sie töten? Wie ahndet die deutsche Justiz die Straftaten?
Eine Studie des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht, die SPIEGEL ONLINE vorab vorliegt, liefert nun einen bisher beispiellos detaillierten Überblick über "Ehrenmorde" in Deutschland. Für die Studie untersuchte ein Forscherteam 78 Fälle mit 109 Opfern und 122 Tätern.
Im Auftrag des Bundeskriminalamtes (BKA) untersuchten die Kriminologen Dietrich Oberwittler und Julia Kasselt in drei Jahren Forschungsarbeit "ehrbezogene Tötungsdelikte in Familien und Partnerschaften zwischen 1996 und 2005".
Die Zahl der Ehrenmorde in Deutschland steigt keineswegs
Auf 250 Seiten schildern sie nüchtern mehr als 70 Verbrechen von teils erschütternder Grausamkeit. Da ist der 22-jährige Türke, der seine zwei Jahre jüngere Schwester mit 46 Messerstichen tötete - weil sie sich von ihrem Ehemann getrennt hatte. Oder der Jordanier, dessen minderjährige Tochter sterben muss - weil sie ihrem Freund nicht den Laufpass hatte geben wollen.
Über Monate wälzten die Forscher Prozessunterlagen, durchforsteten die Archive von Zeitungsredaktionen und erhielten Zugang zu den Akten des BKA. "Einen solchen empirischen Überblick über ehrbezogene Tötungen hat es in Deutschland bisher nicht gegeben", sagte Forschungsgruppenleiter Oberwittler.
Mit einem weitverbreiteten Irrglauben räumt die Studie gleich zu Beginn auf: Die Zahl der Ehrenmorde in Deutschland steigt keineswegs. Im Untersuchungszeitraum habe es zwar Schwankungen bei der jährlichen Anzahl der Taten gegeben - zwei im Jahr 1998, zwölf im Jahr 2004 -, im Durchschnitt bleibe es aber bei sieben bis zehn Fällen pro Jahr.
Einzig das enorm gestiegene Medieninteresse lasse einen gegensätzlichen Eindruck entstehen, so die Forscher. Empirisch belegbar ist er nicht.
Unterwerfung der weiblichen Sexualität
Ein Thema beherrscht laut Oberwittler und Kasselt nahezu alle untersuchten "Ehrenmorde": die "mangelnde Unterwerfung der weiblichen Sexualität unter die Kontrolle eines patriarchal geprägten Familienwillens". Die Partnerwahl einer Frau ist Familienangelegenheit. Widersetzt sie sich, beschmutzt sie vermeintlich die "Ehre" ihres Elternhauses.
Dabei unterscheiden die Forscher vier Falltypen:
- Fehlverhalten des Opfers im Zusammenhang mit einer "legitimen" Partnerschaft: Darunter fallen etwa Untreue, Trennungsgedanken oder die vollzogene Trennung. In 43 der untersuchten Fällen stellten die Gerichte ein solches Motiv fest, Mehrfachnennungen waren möglich.
- "Illegitime" Partnerschaft des Opfers: Dies kann eine voreheliche Beziehung oder Schwangerschaft sein - ebenso wie eine Partnerschaft mit der "falschen" Person. Dieses Motiv stand hinter 25 der 78 untersuchten Fälle.
- Unabhängigkeitsstreben des Opfers: Darunter fallen ein zu "westlicher" Lebensstil, die Rebellion oder sogar Flucht aus Tradition, Familie oder Ehe. 20-mal nannten die Täter diesen Grund für die Tötungen.
- Sonstige Anlässe: alle ehrbezogenen Tatanlässe, die nicht in die ersten drei Kategorien passen. Damit kann beispielsweise die Vergewaltigung einer Frau gemeint sein, die in der Familie als Schande angesehen wird. Hier ermittelten die Forscher acht Fälle.
Unter den 78 ausgewerteten Verbrechen finden sich zahlreiche Grenzfälle zur "Blutrache" und zur "Partnertötung". "Oft bewegen wir uns in einer Grauzone, eine klare Abgrenzung der Motive fällt schwer", so Forscher Oberwittler. In vielen Fällen begingen mehrere Personen, meist Familienmitglieder, die Taten gemeinsam. So wie bei Gülsüm S.
Überraschend erscheint auf den ersten Blick der hohe Anteil von männlichen Opfern. 43,1 Prozent aller getöteten Personen waren Männer. Dabei handelt es sich laut Forscher Oberwittler überwiegend um "zusätzliche" Opfer, die zu den "eigentlichen", weiblichen Opfern hinzukommen. Im Klartext: Der Täter hat es auf eine Frau abgesehen und bringt deren Freund/Partner/Liebhaber gleich mit um.
Sterben müssen bei den brutalen Taten meist junge Menschen. Mehr als die Hälfte der Getöteten war zwischen 18 und 29 Jahren alt. Sieben Prozent der Opfer waren noch minderjährig, die restlichen Personen 30 Jahre und älter.
Anders sieht es bei den Tätern aus: Hier sprechen die Forscher von einem "deutlichen Gipfel" in der Altersgruppe 40 bis 49 Jahre. 32 Prozent der Täter sind 40 Jahre oder älter, weitere 13 Prozent sogar älter als 50 Jahre.
Die meisten Täter stammen aus der Türkei
Die meisten Täter - 76 von 122 - stammen aus der Türkei. Erst weit dahinter folgen die arabischen Länder und die Staaten des ehemaligen Jugoslawien.
Weniger als zehn Prozent der ermittelten Täter wurden in Deutschland geboren, noch weniger (7,6 Prozent) besitzen einen deutschen Pass. So gut wie nie werden die Taten von Migranten der zweiten und dritten Generation begangen. Dies wertet Forscher Oberwittler als Indiz, dass "die Integration in Deutschland funktioniert. Das Problem der Ehrendelikte ist ernst, aber begrenzt".
Auch der Blick auf die berufliche Situation der Täter ergibt ein eindeutiges Bild. Etwas mehr als ein Drittel der verurteilten Personen ging vor der Tat überhaupt keiner Arbeit nach. Unter den berufstätigen Tätern überwiegt laut der Studie eine "Gruppe von bildungsfernen Migranten, die beinahe ausnahmslos un- oder angelernte manuelle Tätigkeiten ausüben und dementsprechend ganz überwiegend die untersten Plätze in der sozialen Schichtung einnehmen".
Kritisch setzt sich die Studie mit der Rechtssprechung deutscher Gerichte auseinander. Laut Bundesgerichtshof sind Ehrenmorde grundsätzlich als Morde aus niedrigen Beweggründen einzustufen. Tatsächlich wurden aber nur bei 28 von 87 rechtskräftig in Deutschland verurteilten Personen auch niedrigen Beweggründe als Motiv festgestellt.
Ehrmotiv kann sogar strafmildern wirken
In rund 40 Prozent der Fälle wurde das Thema "Ehrenmord" vor Gericht gar nicht thematisiert. In 15 untersuchten Fällen werteten die Richter dagegen das Ehrmotiv sogar strafmildernd. "Das sind vor allem Fälle, in denen das Umfeld großen Druck auf Einzelpersonen ausgeübt hat. Gerade jüngere Täter lassen sich so beeinflussen. Oft sind das auch Personen, die noch nicht lange in Deutschland weilen", erklärt Kriminologe Oberwittler.
Bei seiner Erhebung ging das Forscherteam streng empirisch vor. Oberwittler ist sich aber bewusst, dass die Ergebnisse gewisse Ressentiments in der deutschen Bevölkerung schüren könnten. Daher betont er: "Solche Taten werden fast ausnahmslos von einer kleinen, schlecht integrierten Unterschicht begangen. Der 'Ehrenmord' ist in keinster Weise typisch für die türkische Gemeinschaft in Deutschland."