Organisierte Kriminalität BKA warnt vor Tschetschenen-Mafia

Banden aus Tschetschenien sind in Deutschland auf dem Vormarsch - zu dieser Einschätzung kommt das Bundeskriminalamt in einer vertraulichen Analyse. Ermittler besorgt die hohe Gewaltbereitschaft der Männer.
Mordanschlag in Berlin 2016

Mordanschlag in Berlin 2016

Foto: Paul Zinken/ dpa

Ein muskulöser Arm hält eine Kalaschnikow aus dem Seitenfenster eines schweren Geländewagens. Der Fahrer der Mercedes G-Klasse ist hinter der getönten Frontscheibe nicht zu erkennen, doch die Botschaft des Bildes ist klar: Gewalt ist eine Lösung.

Veröffentlicht wurde das Bild auf der Facebook-Seite der Kampfsportvereinigung "Regime 95", einer von Tschetschenen dominierten Gruppe, die vor allem in Nord- und Ostdeutschland Präsenz zeigt. Die rockerähnliche Bande gilt dem Bundeskriminalamt (BKA) als Beispiel für ein Milieu, das sich seit einiger Zeit in der Unterwelt ausbreitet: "Nordkaukasisch-dominierte OK-Strukturen" - gemeint ist die tschetschenische Mafia.

Experten der BKA-Abteilung Schwere und Organisierte Kriminalität haben nach SPIEGEL-Informationen ein Jahr lang Erkenntnisse über auffällige Teile der tschetschenischen Community in Deutschland gesammelt. Beteiligt waren neben neun Landeskriminalämtern auch Nachrichtendienste, der Zoll sowie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf). Codename der Operation: "Borste".

Hohe Eskalations- und Gewaltbereitschaft

Die Beamten analysierten Informationen zu mehr als 200 Schlüsselpersonen aus der Szene. Vor wenigen Wochen stellten die Ermittler ihren vertraulichen Abschlussbericht fertig. Die Ergebnisse der Auswertung, die der SPIEGEL einsehen konnte, sind alarmierend. Während in der Öffentlichkeit vor allem arabischstämmige Familienclans als Bedrohung für den Rechtsstaat wahrgenommen werden, können tschetschenische Banden, die ebenfalls häufig familiär verbunden sind, bislang oft im Verborgenen agieren.

Auf 44 Seiten beschreibt das BKA in seiner Analyse nun, wie tschetschenische Kriminelle inzwischen ganze Deliktsbereiche dominieren und dabei mit äußerster Brutalität vorgehen. "Sie weisen eine überdurchschnittlich hohe Eskalations- und Gewaltbereitschaft auf und treten zunehmend in Verbindung mit Tötungsdelikten in Erscheinung", heißt es in dem Papier.

Gemeint sind damit Vorfälle wie in Berlin im März 2016. Eine Autobombe tötete damals einen polizeibekannten Drogenhändler mitten auf einer viel befahrenen Straße in Charlottenburg. Die Täter sind bis heute nicht ermittelt, die Spuren führen allerdings in die Tschetschenen-Szene.

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Fielen tschetschenische Straftäter früher oft noch als "kriminelle Dienstleister" oder Handlanger anderer Gruppen auf, haben sie den BKA-Erkenntnissen zufolge heute eigene lukrative Einnahmequellen erschlossen. Insbesondere in den Bereichen Drogenhandel, bandenmäßiger Diebstahl und Erpressung - oft in Zusammenhang mit Inkassoaufträgen - ist die Szene demnach stark vertreten.

Auch beobachten die Ermittler in einigen Regionen ein zunehmendes Engagement von Tschetschenen in Sicherheitsunternehmen, die zum Beispiel auch vor Flüchtlingsunterkünften eingesetzt werden.

Wachschutz für das SEK

Zudem versuchen die Banden offenbar gezielt, an sensible Informationen aus Sicherheitsbehörden zu gelangen - eine Vorgehensweise, die man auch von der italienischen Mafia kennt. Dem Bericht zufolge stießen Fahnder im Rahmen des "Borste"-Projektes auf mehrere Fälle, in denen Angehörige der tschetschenischen Mafia Wachschutzaufträge für Polizeigebäude erhielten.

Betroffen war unter anderem Gebäude, in denen Kräfte eines Spezialeinsatzkommandos (SEK) und eines Mobilen Einsatzkommandos (MEK) untergebracht waren. Hier bestehe die Gefahr, dass Verbrecher "aus nächster Nähe polizeitaktisches Vorgehen beobachten und Informationen aus sensiblen polizeilichen Bereichen erlangen können", warnt das BKA.

Für besonders alarmierend hält die Behörde Überschneidungen zwischen schwerkriminellen Tätern und extremistischen Kreisen. Wie die Beamten feststellten, ist knapp ein Drittel der betrachteten rund 200 Tschetschenen in beiden Bereichen auffällig. Dabei handelt es sich zum Beispiel um Männer, die Diebesbanden angehören und zugleich als Islamisten erfasst sind.

Abgeschottete Parallelgesellschaft

Dass tschetschenische Straftäter möglicherweise auch systematisch islamistische Gruppen unterstützen, konnten die Ermittler bislang zwar nicht belegen. Angesichts dieses möglichen Risikos empfiehlt das BKA jedoch dringend eine fortlaufende Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Polizeiabteilungen und einen noch engeren Austausch mit dem Bundesnachrichtendienst (BND) und den Ämtern für Verfassungsschutz.

Ohnehin gestalten sich Ermittlungen gegen die Szene wohl oft äußerst schwierig. Grund dafür sei vor allem der "enge Zusammenhalt" innerhalb der tschetschenischen Volksgruppe, der etwa das Anwerben von Informanten oder den Einsatz verdeckter Ermittler erheblich erschwere. Der gemeinsame Nenner bestehe "in der Loyalität gegenüber der weitgehend abgeschotteten Gemeinschaft, die sich deutlich von wesentlichen Werten pluralistischer, liberaler Gesellschaftsformen abgrenzt", heißt es im BKA-Bericht. Deutlicher kann man eine Parallelgesellschaft wohl kaum beschreiben.

Tschetscheniens Diktator Kadyrow

Tschetscheniens Diktator Kadyrow

Foto: Friedemann Kohler/ dpa

Oftmals, so die Ermittler, träten fundamentale Differenzen verfeindeter Lager bei kriminellen Geschäften in den Hintergrund. Demnach halten zum Beispiel auch Gegner und Unterstützer des tschetschenischen Diktators Ramsan Kadyrow eisern zusammen, wenn es darauf ankommt.

Wie viele Tschetschenen sich in Deutschland aufhalten und wie groß der Anteil polizeibekannter Personen ist, lässt sich nicht genau sagen. Da Tschetschenen offiziell russische Staatsbürger sind, werden sie lediglich als solche registriert. Sicher ist laut Analyse, dass die Community in Deutschland einen Großteil der tschetschenischen Diaspora in Europa darstellt.

Das Bamf schätzt die Zahl der Nordkaukasier in Deutschland auf bis zu 50.000, rund 80 Prozent davon sind Tschetschenen. Die große Mehrzahl lebt offensichtlich unauffällig im Land. Doch die enge Vernetzung der Volksgruppe im In- und Ausland wird auch von kriminellen Banden und Terrorverdächtigen genutzt.

Brutal, vernetzt und abgeschottet: Insgesamt erkennen die BKA-Analysten eine erhebliche Bedrohung, die von tschetschenischen Tätergruppen ausgeht. Zudem sei ein signifikanter Rückgang von Einreisen aus dem Nordkaukasus nicht zu erwarten, heißt es.

In mehreren Fällen versuchten Ermittler, auf eine Ausweisung oder Abschiebung einzelner Täter hinzuwirken - vergeblich, wie es in dem BKA-Bericht heißt. Manche dürfen demnach aufgrund ihrer langen Zeit in Deutschland und aus familiären Gründen im Land bleiben. Andere schütze ein Wirrwarr an Zuständigkeiten und Regelungen vor der Durchsetzung "aufenthaltsbeendender Maßnahmen". Das Ergebnis: Im Jahr der Analyse musste keiner der vom BKA als besonders gefährlich eingestuften Tschetschenen das Land verlassen.

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