Blutrache Clan-Krieg in Neukölln

Seit mehr als vier Jahrzehnten bekämpfen sich zwei anatolische Familien bis aufs Blut - zuletzt auch in Berlin. Um die erbitterte Fehde zu beenden, hat Cihan Aslan einen Tabubruch gewagt: Er lieferte seinen Bruder, einen mutmaßlichen Mörder, der Polizei aus.
Von Ferda Ataman und Jens Todt

Berlin - Fatma Aslan* sitzt aufrecht auf einem Stuhl in ihrem Wohnzimmer im Berliner Stadtteil Neukölln und schenkt sich schwarzen Tee ein. Hinter ihr an der Wand hängt ein Foto, das sie mit ihrem Mann zeigt. Das Bild ist ein wenig verschwommen, die Farben zu grell. Fatma und Bülüt Aslan sehen starr und ernst in die Kamera. Das Foto ist 45 Jahre alt und wirkt, als stamme es aus einer fremden Welt.

Fatmas Mann liegt nebenan im Schlafzimmer, nach einem Schlaganfall ist er halbseitig gelähmt. "Es war alles umsonst", sagt Fatma und erzählt ihre Geschichte. Es ist eine Einwanderergeschichte, wie es Hunderttausende gibt, sie handelt von der Flucht vor Armut und der Hoffnung auf ein besseres Leben. 1973 siedelt die Familie Aslan nach Deutschland um, Fatma und Bülüt finden Arbeit in einem Mercedes-Werk in Neuss, wo sie Motorhauben herstellen. Als die Fabrik geschlossen wird, zieht die Familie nach Berlin. Bülüt findet nie wieder eine geregelte Arbeit, seine Frau putzt in einem Kindergarten. Heute lebt die Familie von Fatmas kleiner Rente.

Fatma sagt, dass ihre Familie gescheitert sei, eigentlich ihr ganzes Leben. "Serefsizler", sagt sie, was soviel heißt wie "die Ehrlosen". Sie erklärt nicht, ob sie den weit verzweigten Clan meint oder ihre eigene Familie. Ihre drei Söhne sind allesamt straffällig geworden. Immerhin leben sie noch. Ahmet, der Jüngste, sitzt wegen Drogenhandels in einem süddeutschen Gefängnis, Cihan, der Älteste, hat zweimal zweieinhalb Jahre Haft verbüßt - wegen versuchten Totschlags und ebenfalls wegen eines Drogendelikts.

Der 30-jährige Artun sitzt seit einigen Monaten im Untersuchungsgefängnis Moabit. Er soll vor elf Jahren den kaltblütigen Mord an Satilmis Hüseyn begangen haben, eine Hinrichtung im Namen der Ehre, auf offener Straße in Kreuzberg. Der Hauptbelastungszeuge in dem Verfahren sitzt seiner Mutter gegenüber auf dem Sofa: Cihan hat seinen eigenen Bruder Artun an die Polizei verraten.

Satilmis Hüseyn war in der Nacht des 11. März 1995 am Steuer seines Wagens von mehreren Schüssen in den Hinterkopf getroffen worden. Trotz jahrelanger Ermittlungen und einer ausgesetzten Belohnung konnte der Fall nicht aufgeklärt werden. Im Berliner Einwanderermilieu ist Schweigen Gesetz, hier regeln die verschiedenen ethnischen Gruppen ihre Angelegenheiten unter sich. Bei Kapitalverbrechen ist es für die Polizei schwer, Zeugen aufzutreiben. Bis Cihan im Juli 2005 im Landeskriminalamt auftaucht und einen Ermittler der Mordkommission sprechen will. Er habe etwas Wichtiges mitzuteilen, so Cihan damals, er kenne den lang gesuchten Mörder von Satilmis Hüseyn - es sei sein Bruder Artun.

"Die haben meinen Bruder benutzt"

Die Beamten der 3. Mordkommission lassen den Gast erzählen. Stundenlang berichtet er von Clan-Streitigkeiten, von Rache und Hass, die seit Jahrzehnten schwelen, zunächst nur in der anatolischen Heimat, später auch in Berlin. Was die Sache besonders brisant macht: Cihan belastet nicht nur seinen Bruder. Er behauptet, dass Artun zu der Tat angestiftet worden sei, die Auftraggeber säßen in der Türkei, die Mordwaffe habe ein im Neuköllner Milieu bekannter Landsmann beschafft. "Die haben meinen Bruder benutzt", so der 37-Jährige. Der mutmaßliche Helfer aus Berlin wurde inzwischen von der Polizei verhaftet.

Der Mord an Satilmis Hüseyn war der vorläufig letzte in einer Reihe von Vergeltungsschlägen, die sich zwei inzwischen weit verzweigte Familienverbände gegenseitig zugefügt haben. Mindestens fünf Menschen haben im Verlauf der Fehde bereits ihr Leben gelassen, zwei davon in Berlin. Ein halbes Dutzend wurde verletzt. Cihan nippt an seiner Kaffeetasse, nimmt sich eine Zigarette und erzählt von der Heimat. Er spricht ruhig, er weiß, dass er in Gefahr ist, seit er die wichtigste Entscheidung seines Lebens getroffen hat. "Was passiert, passiert eben", so Cihan.

Angefangen hat alles mit einem banalen Streich im Winter 1963 in dem anatolischen Dorf Cokuoren. Eine Gruppe Jugendlicher schlendert über ein Grundstück der Familie Sariören. Gelangweilt beschädigen die Teenager eine Reihe von Bäumen, die auf dem Land wachsen. Was als Vandalismus der harmloseren Art beginnt, entwickelt sich zu einem Familienkrieg, der noch Jahrzehnte später und Tausende Kilometer entfernt Todesopfer fordert. Die Familie Sariören ist aufgebracht über die Schäden, abends kommt es zum Streit. Mahmut, ein 20-jähriger Sohn der Familie Kartal, will schlichten, die Situation eskaliert - am Ende liegt Mahmut tot auf der Erde. Jemand hat ihm bei einem Handgemenge ein Messer direkt ins Herz gestochen.

Eine Weile ruht der Streit, in Vergessenheit gerät er jedoch nie. Volle 14 Jahre später wird ein Verwandter der Familie Sariören in der Türkei erschossen. Jetzt ist der Kreislauf der Gewalt in Gang: In den Jahren danach sterben zwei weitere Männer eines gewaltsamen Todes, einer in der Türkei, der andere in Berlin. Damit ist die Fehde, deren Verlauf niemand der Beteiligten mehr genau nachvollziehen kann, in Deutschland angekommen. Längst spielt es kaum noch eine Rolle, wer wann angefangen hat mit der Gewalt - die Vergeltung hat sich automatisiert.

Blutrache und Ehrenmorde sind keine seltenen Phänomene in der Türkei. Nach Angaben der Polizei in Ankara sind von 2000 bis 2005 insgesamt 1190 Menschen dem archaischen Ritual zum Opfer gefallen. Und das Dunkelfeld ist groß, bei weitem nicht alle Fälle werden den Behörden gemeldet. Unter den offiziell gezählten Opfern waren 710 Männer und 480 Frauen. Menschenrechtsorganisationen und die türkische Regierung setzen sich seit einigen Jahren gegen Ehrenmorde ein. Die traditionelle Lynchjustiz herrscht vor allem im anatolischen Osten des Landes vor. Meinungsumfragen zeigen, dass das brutale Brauchtum dort immer noch von einem großen Teil der Bevölkerung unterstützt wird.

"Die Sache muss ein Ende haben"

"Eigentlich haben wir gar nichts mit dem Streit der beiden Familien zu tun", sagt Cihan, "wir sind mit beiden nur weitläufig verwandt." Als sein Bruder Artun jedoch den Sommer 1994 bei Verwandten in der Türkei verbringt, soll er von den Männern der Familie Kartal dazu überredet worden sein, einem Mord zu begehen. "Er sollte Satilmis Hüseyn in Berlin für sie töten", so Cihan.

Auch das auserkorene Opfer hat überhaupt nichts mit den Streitigkeiten der beiden Clans zu tun. Trotzdem landet sein Name ganz oben auf der Todesliste. Immerhin ist er mit dem Mörder des Cousins der Familie Kartal verwandt, und nach der Logik der Blutrache kann auch ein unschuldiger Verwandter für die Taten der Sippe bezahlen.

Einige Monate später sitzt Satilmis Hüseyn vornüber gebeugt am Steuer seines Wagens, sein Hinterkopf ist von mehreren Pistolenkugeln zerschossen. Artun habe den Mord gegenüber seiner Familie zugegeben, so Cihan. "Die Sache muss nun ein Ende haben", sagt Cihan, "es sind genug Menschen gestorben." Sein Bruder müsse Verantwortung für das Verbrechen übernehmen. Polizei und Staatsanwaltschaft äußern sich nicht zu dem Fall, doch nach Informationen von SPIEGEL ONLINE hat Artun die Tat inzwischen eingeräumt. Demnächst soll Anklage erhoben werden. Gegen weitere Personen ermittelt die Staatsanwaltschaft noch.

Cihan weiß nicht, wie es weitergehen wird mit seiner Familie. Der Konflikt der beiden Clans ist seit Generationen in den Köpfen verfestigt, ein Ausweg aus dem Kreislauf der Gewalt kaum in Sicht. Cihan sagt, er habe Kontakt zum Bruder des letzten Opfers aufgenommen, habe ihm alles erzählt. Die Geschichte seines verleiteten Bruders und Einzelheiten über die mutmaßlichen Auftraggeber in der Heimat. Er sagt, er wünsche sich nichts mehr als Versöhnung zwischen den Clans, doch nach den Gesetzen der Blutrache ist die Familie des Getöteten angehalten, ihre Ehre wieder herzustellen.

Cihan hofft darauf, in Deutschland bleiben zu können. Vor einigen Jahren wurde er ausgewiesen, kehrte jedoch bald darauf zurück. Seit einigen Jahren lebt er illegal in Berlin, wird nur bis zum Prozess gegen seinen Bruder geduldet. Seine Frau lebt mit der gemeinsamen Tochter in der Türkei, Cihan hat das Kind noch nie gesehen, weil er das Risiko scheute, erneut illegal zu reisen.

Mit seinem Entschluss, die Wahrheit ans Licht zu bringen, seine Wahrheit, ist Cihan in größerer Gefahr als jemals zuvor. Er weiß, dass es auch ihn treffen kann, jederzeit. Das Landeskriminalamt habe ihn einige Wochen lang geschützt, so Cihan, dann habe er keine Aufpasser mehr an seiner Seite gewollt. Was immer auch passieren wird, Cihan sagt, er sei vorbereitet.



* Alle Namen geändert

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