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Der Fall Dominik Brunner: Gewaltexzess am Bahnsteig

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Brunner-Prozess "Der Lokführer hat alles gesehen"

Der Prozess um Dominik Brunners gewaltsamen Tod fährt sich an einer zentralen Frage fest: Wie begann die Prügelei am Münchner S-Bahnhof Solln - schlug der Geschäftsmann zuerst zu oder die Angeklagten? Die Aussagen der Jugendlichen, die der Münchner Manager schützen wollte, könnten unterschiedlicher nicht sein.

An Dramatik ist dieser Prozess wahrlich kaum zu überbieten: Jeder Sitzungstag im Verfahren gegen Markus Sch., 19, und Sebastian L., 18, vor der Jugendkammer des Landgerichts München I, die den tragischen Tod des Managers Dominik Brunner am S-Bahnhof München-Solln am 12. September 2009 aufzuklären versucht, bringt neue Überraschungen.

So auch am Donnerstag: Der Tatablauf stellt sich am dritten Verhandlungstag in manchen Punkten anders dar, als die Staatsanwaltschaft in ihrer Anklage behauptet.

Was stimmt denn nun? Nach diesem Tag ist diese Frage noch schwieriger zu beantworten.

So heißt es in der Anklage wörtlich:

"Dominik Brunner nahm währenddessen Blickkontakt zu dem Lokführer der S-Bahn, dem Zeugen B., auf und sagte diesem, dass es hier jetzt Ärger geben werde. Unmittelbar im Anschluss daran zog Dominik Brunner seine Jacke aus und legte seine Rucksack ab, um sich besser gegen den bevorstehenden Angriff der Angeschuldigten verteidigen zu können. Die beiden Angeschuldigten gingen nunmehr in Angriffstellung mit geballten Fäusten auf den später Getöteten zu, um diesen zu schlagen. Der Angeschuldigte S. kündigte dabei auch lautstark wörtlich an: 'Jetzt schlagen wir euch!' Dominik Brunner wies die vier Jugendlichen noch an, sich nicht einzumischen. Kurz darauf gelang es Dominik Brunner, einen ersten Angriff des Angeschuldigten S. mit einem Faustschlag in dessen Gesicht abzuwehren. Die Angeschuldigten hielten darauf kurz inne und berieten sich, während Dominik Brunner in einer Verteidigungshaltung abwartete und keinerlei Anstalten machte, die beiden Angeschuldigten anzugreifen."

Dieser Darstellung widersprechen nun nicht nur die beiden Angeklagten, sondern mehr oder minder auch unmittelbare Tatzeugen. Zum Beispiel die Schüler, die Brunner in der S-Bahn vor den Pöbeleien der Angeklagten zu schützen versuchte. Der erste Zeuge, der 15-jährige R., der sich an sehr viele Details nicht mehr zu erinnern vermochte, berichtete am späten Mittwochnachmittag, dass, als man ausgestiegen war, "klar war, dass etwas passiert".

"Was deutete darauf hin?", fragte der Vorsitzende.

"Das weiß ich nicht mehr", antwortete R., "es war eben klar."

"Haben die sich bedrohlich aufgestellt? In Kampfhaltung?", fragte der Vorsitzende weiter.

"Das weiß ich nicht mehr."

"Einem verpasste Herr Brunner einen Faustschlag. Ging er auf diesen jungen Mann zu? Was war der Anlass für den Faustschlag?"

"Das weiß ich nicht mehr. Es wurde so bedrohlich."

"Wieso?"

Der Zeuge weiß auch dies nicht mehr. Dann fällt ihm ein, dass es zu einer "kleinen Schlägerei" gekommen sei. "Man sah, dass Herr Brunner denen überlegen war."

Es ist schwierig,vom Tatablauf überhaupt ein Bild zu bekommen.

Denn der nächste Schüler, der 16-jährige M., erinnert sich wieder anders. Dass der eine Zeuge eine Bedrohungssituation empfindet, wo der andere die Lage bereits als beruhigt einschätzt, mag auf subjektive Gründe zurückzuführen sein. Aber es gehen auch die Aussagen über konkrete Dinge auseinander: wer wo wie stand, wer was sagte oder nicht. M. vor allem hat den Ablauf der Geschehnisse nach dem Aussteigen aus S-Bahn anders in Erinnerung als R. Und auf diesen Tathergang kommt es an.

Dominik Brunner ging in Boxerstellung

Am Donnerstag beschrieb M., wie Brunner mit den Schülern in Solln ausstieg, auf die sechs bis neun Meter entfernten Angeklagten zuging und zu ihnen sagte: "Ihr wollt's nicht anders!" Dann soll er dem einen ins Gesicht geschlagen haben. "Als er zu diesem Schlag ansetzte, merkte man, dass der Mann mal mit Kampfsport zu tun hatte. Das war so eine Boxerstellung. Er hat dann sofort zugeschlagen. Als der eine dann einen Schlüssel aus seiner Tasche nahm, ging Herr Brunner wieder in Kampfstellung."

"Kam dieser Schlag für Sie überraschend?", fragt der Vorsitzende.

"Nein", antwortet der junge Zeuge, "denn Herr Brunner ging ja auf die zu. Und die hatten es verdient."

"Haben die Angeklagten ihrerseits auch eine solche Haltung eingenommen?", will der Vorsitzende wissen.

"Nein, die standen einfach da", antwortet der Schüler. Der Vorsitzende fragt noch einmal nach. "Die standen einfach da?"

"Ja."

M. bestätigt es noch einmal. "Und Brunner versetzte dem einen der Angeklagten unmittelbar einen Faustschlag? Wohin?"

"Unter das Auge. Es hat geblutet."

"Sie konnten das alles beobachten?"

"Ja."

In der polizeilichen Vernehmung an jenem 12. September 2009, just nachdem die Jugendlichen erfahren hatten, dass Brunner tot ist, hatte vor allem M. brutalste Tritte des Angeklagten Markus detailliert zu Protokoll gegeben. Davon will er aber heute nichts mehr wissen. "Ich habe keine Tritte gesehen", bekräftigt er.

Ist die Vernehmung eines verwirrten Jugendlichen verwertbar?

Hat er das brutale Geschehen verdrängt, weil es ihn sonst zu sehr belastet hätte? Hat der junge Mann, ein schlaksiger Hüne um die 1,90 Meter, unter dem Eindruck dessen, was damals gerade geschehen war und was er in dieser Form noch nie erlebt hatte, übertrieben, wie es junge Leute oft tun, weil sie anders mit ihren Gefühlen noch nicht umgehen können? Vergessen hat er das dramatische Geschehen wohl kaum. Ist eine solche Vernehmung bei der Polizei verwertbar?

Die Verteidiger stecken die Köpfe zusammen, die Sachverständigen treten hinzu. Der Vorsitzende erkennt sofort die brisante Situation und findet ebenso schnell den Ausweg: "Wenn der Zeuge angibt, er könne sich nicht erinnern, was er bei der Polizei ausgesagt hat, ist es ja unsinnig, ihm seine sämtlichen Aussagen vorzuhalten. Im Augenblick habe ich nur das, was er hier sagt, nämlich dass er nichts mehr weiß." Der Richter schlägt vor, die Vernehmungsbeamten zu hören. "Denn für uns ist es von großem Interesse zu erfahren, wie es zu der Vernehmung kam und was deren Inhalt war."

"Hatten Sie Angst um das Leben von Herrn Brunner?", fragt eine der Beisitzerinnen. "Als er nach der Schlägerei wieder aufstand und seine Brille nahm, dachte ich, er sei okay", antwortet der Zeuge. "Dann aber fiel er plötzlich um, und ich dachte, vielleicht hat er einen Kreislaufkollaps. Dass er stirbt, damit habe ich nicht gerechnet." Und dann bricht der Schüler fast in Tränen aus. "Wenn der Lokführer etwas gemacht hätte", schluchzt er, "wäre es vielleicht anders gelaufen. Doch der hat gar nichts gemacht. Der hat alles gesehen. Und ist dann einfach weitergefahren."

Starker Alkoholgeruch bei einem der Angeklagten

Die nächste Zeugin wiederum, eines der Mädchen unter den Vieren in der S-Bahn, erinnert sich an eine bedrohliche Kampfhaltung der Angeklagten und wie diese auf Brunner zugegangen seien. Dass dieser als Erster mit der Faust zugeschlagen haben soll, davon weiß sie nichts. Sie erinnert sich nur an ein Abwehr-, nicht an ein Angriffsverhalten Brunners.

Diese 14-jährige Zeugin allerdings ist die Erste, die einen "echt abartigen" Alkoholgeruch bei Markus festgestellt haben will. Und sie ist auch diejenige, die weder Schläge noch Tritte von Sebastian gegen Brunner bemerkt haben will. Der "Kleinere", das wäre Sebastian, habe stets abseits gestanden und versucht, den größeren Markus von Brunner wegzuziehen. Er habe gar nichts gemacht, weder geschlagen noch getreten.

Zeugenaussagen, das weiß jeder, der mit Strafjustiz zu tun hat, sind das unzuverlässigste Beweismittel überhaupt. Bei jungen Zeugen ist es noch komplizierter.

Die 14-jährige Zeugin bestätigt alles, was ihr zum Beispiel die Staatsanwältin vorhält: "Gingen die Angeklagten schnellen Schrittes auf Brunner zu? War es bedrohlich? Haben Sie Angst gehabt? Haben Sie gedacht, dass Herr Brunner sterben wird?" Ja, sicher, ein bisschen.

Es werden noch viele Zeugen in München zu hören sein.

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