Bundesverfassungsgericht Kneipengespräch über Kriegsschuld ist keine Volksverhetzung

Deutsch-polnische Grenze 1939: Wehrmachtssoldaten reißen einen Schlagbaum ein
Foto: ASSOCIATED PRESSHamburg - Ein Mann geht in einem Ort in Thüringen in eine Kneipe. Im Fernsehen läuft eine Dokumentation über den Zweiten Weltkrieg, der 1924 geborene Mann, über den später Richter sagen wird, er sei "auch heute noch ersichtlich ein glühender Verfechter der nationalsozialistischen Ideologie und Geschichtsfälschung", ereifert sich laut über den Krieg, dessen Folgen und die Umstände der Verursachung. Zwei Tage später kehrt er in die Kneipe zurück, drängt dem Wirt ein Gespräch über die Geschehnisse in Deutschland während des Nationalsozialismus auf und präsentiert ihm einige Aufsätze zu dem Thema - alle mit deutlicher NS-Nähe.
Unter den Texten sind mehrere Aufsätze des "Kampfbundes gegen Unterdrückung der Wahrheit in Deutschland", in denen es um die Kriegsschuld der Deutschen geht. In dem Aufsatz "Die Geschichtslüge des angeblichen Überfalls auf Polen im Jahre 1939" wird unter anderem behauptet, es sei wissenschaftlich erwiesen, dass es keine Gaskammern für Menschen gegeben habe. Im zweiten Aufsatz wird der Holocaust an den Juden als "Zwecklüge" bezeichnet. Der Wirt lässt den Mann reden, nimmt die Unterlagen entgegen, übergibt sie später auf Anraten seines Bruders der Polizei und zeigt den Gast an.
Der Verbreiter der Pamphlete wurde im Juni 2006 vom Amtsgericht Sonderhausen und im April 2007 vom Landgericht Mühlhausen wegen Volksverhetzung durch das Verbreiten von Schriften (gemäß Strafgesetzbuch Paragraf 130) zu einer Geldstrafe verurteilt. Der Mann legte beim Thüringer Oberlandesgericht Berufung ein, verlor, zog vor das Bundesverfassungsgericht (BVerfG), weil er sich in seinem Grundrecht auf Meinungsäußerung verletzt sah - und bekam Recht.
Das BVerfG in Karlsruhe entschied: Die in der Kneipe verkündeten Parolen des Mannes sind als Meinungsäußerungen zu sehen und daher vom Grundgesetz Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 geschützt. Auch sei in dem Fall nicht von einer Volksverhetzung auszugehen, da der Mann seine Schriften nur an einen Einzelnen weitergegeben habe - ohne Anhaltspunkte für Weiterverbreitung. Die Entscheidung wurde bereits im vergangenen November getroffen, aber erst jetzt veröffentlicht.
Nationalsozialistisches Gedankengut kann geschützt sein
Unter den Schutz des Artikel 5 des Grundgesetzes fallen Meinungsäußerungen - egal ob "sie sich als wahr oder unwahr erweisen, ob sie begründet oder grundlos, emotional oder rational sind, als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt werden", heißt es in der Begründung aus Karlsruhe. Dementsprechend falle "selbst die Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts als radikale Infragestellung der geltenden Ordnung" nicht von vornherein aus dem Schutzbereich.
Ausnahme: die Leugnung des Holocaust. Das sei "eine geschichtlich erwiesene Tatsache, die eigentlich nicht dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit unterfällt", betonen die Richter unter Hinweis auf frühere Rechtsprechung.
Das BVerfG sah in diesem Fall jedoch nicht die Holocaust-Lüge als die entscheidende Äußerung des Kneipengastes an. Der Mann habe sie lediglich als Teil eines "einleitenden Begründungsversuchs" genutzt - und zwar zur Erklärung seiner kruden Ansichten über die fehlende Kriegsschuld Deutschlands und die "Lügen der Nachkriegsgeneration". Diese Grundthesen seien ihrerseits als wertende Äußerungen vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit umfasst, lautet das Fazit aus Karlsruhe. Die vorinstanzlichen Urteile hatten darauf abgezielt, dass der Mann den Holocaust geleugnet hatte.
"Das ist keine grundsätzliche Entscheidung zur sogenannten Holocaust-Lüge", betonte BVerfG-Sprecherin Judith Blohm. Das BVerfG habe betont, weiterhin an der Entscheidung festzuhalten, dass die Leugnung des Holocaust nicht als Meinungsäußerung gilt. In dem Fall dieses Kneipengastes habe der Schwerpunkt jedoch auf anderen Themen gelegen - und auf dem Tatbestand des Verbreitens. "Eine Volksverhetzung kann ein Mensch nur begehen, wenn seine Äußerung verbreitet wird", sagte Blohm SPIEGEL ONLINE.
Gast wollt lediglich den Wirt informieren
"Entscheidendes Kriterium, ob ein Verbreiten vorliegt, ist nach hergebrachtem Verständnis stets, dass eine Schrift einem größeren, nicht mehr kontrollierbaren Personenkreis zugänglich gemacht wird", erklären die Karlsruher Richter in ihrer Entscheidungsbegründung. Die Vorinstanzen hätten das Tatbestandsmerkmal "verbreiten" überdehnt.
Aus dem Umstand, dass der Mann die Schriftstücke einem Gastwirt - also einer Person mit Zugang zu einem größeren Publikum - übergeben habe, hatten die Gerichte in Thüringen das Verbreitungskriterium angenommen. Dass zu dem Zeitpunkt der Übergabe außer dem Gastwirt keine weiteren Personen in der Gaststube gewesen seien, sei unerheblich. Der Gast habe eine Verbreitung der übergebenen Schriften zumindest billigend in Kauf genommen.
Das sah das BVerfG anders: Die beiden an dem Verfahren beteiligten Männer hätten übereinstimmend ausgesagt, dass der Gast dem Wirt die Aufsätze deshalb ausgehändigt habe, damit dieser sich über die sich angeblich tatsächlich ereigneten historischen Geschehnisse informiere. Es sei jeweils nur ein Exemplar überreicht worden, und der Mann habe den Wirt nicht aufgefordert, die Schriften in der Gaststätte auszulegen oder sonstwie zu verbreiten.
Das BVerfG hob das Urteil des Landgerichts und den Beschluss des Oberlandesgerichts vom Januar 2008 auf und verwies den Fall zurück an das Landgericht Mühlhausen.
Aktenzeichen: 1 BvR 461/08