Reaktionen auf Triage-Beschluss »Jetzt kann sich der Bundestag nicht mehr drücken«

Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass es für die Triage gesetzliche Vorgaben geben muss. Patientenschützer und Gesundheitsminister Lauterbach begrüßen den Beschluss – FDP-Politiker Kubicki kritisiert die Union.
Rettungskräfte schieben einen Covid-19-Patienten an einem Raum mit der Aufschrift »Triage« vorbei (Archivbild)

Rettungskräfte schieben einen Covid-19-Patienten an einem Raum mit der Aufschrift »Triage« vorbei (Archivbild)

Foto: Fabian Strauch / dpa

Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur sogenannten Triage und zum Schutz von Menschen mit Behinderungen stößt bislang überwiegend auf Zustimmung.

Das Karlsruher Gericht hatte auch mit Verweis auf die Behindertenrechtskonvention entschieden, der Bundestag müsse »unverzüglich« Vorkehrungen zum Schutz von Menschen mit Behinderungen im Fall einer Triage treffen – also wenn Ärzte entscheiden müssen, wen sie angesichts knapper Ressourcen retten und wen nicht. Bei der Umsetzung habe der Gesetzgeber Spielräume.

»Das hatte ich mir natürlich erhofft, aber nicht zu wünschen gewagt«, sagte Eugen Brysch, der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, der Nachrichtenagentur dpa. Für all jene, die angesichts der bisherigen Empfehlungen behauptet haben, diese diskriminierten Menschen mit Behinderung nicht, sei der Beschluss eine »Watsche«. »Jetzt kann sich der Bundestag nicht mehr drücken«, so Brysch.

Bislang habe das Parlament Entscheidungen zur Priorisierung im Gesundheitssystem immer delegiert. »Die Zeit, seine Hände in Unschuld zu waschen, ist vorbei.« Die nun zu treffenden Entscheidungen seien für die Bundestagsabgeordneten sicher keine einfachen, räumte der Patientenschützer ein.

Die Entscheidung reicht aus Sicht Bryschs weit über die Coronapandemie hinaus. Dass Menschen mit Behinderung bei knappen Ressourcen nicht benachteiligt werden dürften, spiele beispielsweise auch bei Organspenden und Pflege eine Rolle, so Brysch.

»Interessant finde ich, dass das Bundesverfassungsgericht sagt, dass der Staat Schutzpflichten hat«, sagt der Inklusionsaktivist Raúl Krauthausen, der selbst auch Beschwerdeführer war. Man könne davon ausgehen, dass der Beschluss auch über andere Themen Relevanz hat.

Anwalt Oliver Tolmein, der die Klägerseite vertrat, sieht das ähnlich: In den letzten Jahren habe man eine allmähliche Entwicklung festgestellt, dass Schutzrechte und Benachteiligungsverbote auch in der Rechtsprechung eine Rolle spielen. »Mit dieser Entscheidung geht das jetzt systematisch ein ganzes Stück weiter.« Aber der Beschluss ist in erster Linie genau das: ein Beschluss. Es muss jetzt was passieren, sagt Tolmein. Und dafür müssten Verbände und Organisationen von Menschen mit Behinderungen mit Politik und Fachgesellschaften überlegen, wie man schnellstmöglich zu einer verfassungsmäßigen, nicht benachteiligenden Triage-Regelung kommt.

Gesundheitsministerium will »zeitnah« Gesetzesvorlage erarbeiten

Aus dem Bundesgesundheitsministerium hieß es gegenüber dem SPIEGEL, man werte den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts jetzt aus. Man wolle »zeitnah« eine Gesetzesvorlage erarbeiten.

Der Sozialverband VdK hat die Entscheidung ebenfalls begrüßt. Der Gesetzgeber müsse in der aktuellen Pandemiesituation dringend handeln, teilte VdK-Präsidentin Verena Bentele mit. »Es kann und darf nicht sein, dass Medizinerinnen und Mediziner in einer so wichtigen Frage allein gelassen werden, dafür braucht es eine gesetzliche Grundlage.« Jede Benachteiligung wegen einer Behinderung müsse verhindert werden, so Bentele. »Die Politik muss nun unverzüglich handeln, das hat das Gericht sehr deutlich gemacht.«

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) begrüßte den Beschluss. »Menschen mit Behinderung bedürfen mehr als alle anderen des Schutzes durch den Staat«, erklärte Lauterbach via Twitter. Dies gelte »erst recht im Falle einer Triage«.

Zu konkreten Handlungsoptionen mit Blick auf eine gesetzliche Regelung äußerte sich Lauterbach nicht. Er betonte vielmehr, es gehe darum, »Triage durch wirksame Schutzmaßnahmen und Impfungen zu verhindern«.

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Justizminister Buschmann verspricht zügiges Gesetz

»Das erste Ziel muss sein, dass es erst gar nicht zu einer Triage kommt«, teilte Justizminister Marco Buschmann (FDP) mit. »Wenn aber doch, dann bedarf es klarer Regeln, die Menschen mit Handicaps Schutz vor Diskriminierung bieten.« Die Bundesregierung werde dazu zügig einen Entwurf vorlegen. Auch das Bundesjustizministerium werde sich in die Erarbeitung eines solchen Gesetzes aktiv einbringen.

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Der Gesetzgeber dürfe es nicht mehr den medizinischen Fachgesellschaften überlassen, Leitlinien für den Fall einer Triage aufzustellen. »Das Bundesverfassungsgericht zeigt auf, dass ein Risiko einer Benachteiligung von Menschen mit einer Behinderung in einer Extremsituation wie einer Triage besteht. Der Gesetzgeber muss daher selbst Vorgaben treffen. Und dies »unverzüglich«. Ich begrüße diese klaren Worte des Bundesverfassungsgerichts«, so der FDP-Politiker.

Was den Inhalt der zu erlassenden gesetzlichen Regelung anbelange, so betone das Bundesverfassungsgericht den weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, erklärte Buschmann.

Rein prozedurale Regelungen seien ebenso denkbar wie konkrete substanzielle Vorgaben. »Sichergestellt werden muss in jedem Fall, dass in einer Triage-Situation niemand aufgrund seiner Behinderung benachteiligt wird«, so Buschmann. Diese Vorgabe folge unmittelbar aus dem Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 des Grundgesetzes (»Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden«– die Red.), ihr müsse das Gesetz umfassend Rechnung tragen.

Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) begrüßt das Urteil des Verfassungsgerichts

Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) begrüßt das Urteil des Verfassungsgerichts

Foto: Kay Nietfeld / dpa

»Zugleich wird sich die Bundesregierung weiterhin als erstes Ziel darum bemühen, dass es gar nicht erst zu einer Situation kommt, in der ein solches Triage-Gesetz zur Anwendung kommt«, versicherte Buschmann. Eine deutschlandweite Überlastung der intensiv-medizinischen Behandlungskapazitäten habe bislang vermieden werden können; diesem Ziel gelten auch weiterhin alle Anstrengungen, so der Bundesjustizminister in einer schriftlichen Erklärung.

Kubicki kritisiert Merkels Coronapolitik

Die stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Dagmar Schmidt erklärte, das Thema einer gesetzlichen Regelung sei bereits »im letzten Jahr diskutiert« worden. Damit könne das Parlament den Beschluss der Verfassungsrichter »jetzt schnell umsetzen«.

Wolfgang Kubicki (FDP) bezeichnete den Beschluss gegenüber der »Rheinischen Post« als »rechtlich nachvollziehbar«. Nach der »Wertentscheidung unseres Grundgesetzes« müssten Fragen von Leben und Tod durch den Gesetzgeber entschieden werden und nicht durch »private Übereinkunft«. Gleichzeitig kritisierte er CSU und CDU. »Dass die Union, die den Bundesgesundheitsminister in der vergangenen Legislaturperiode stellte, hier über anderthalb Jahre nicht tätig geworden ist, passt leider ins Bild einer lediglich auf Kurzfristigkeit ausgelegten Coronapolitik unter Kanzlerin Merkel«, sagte der Jurist und Bundestagsvizepräsident.

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Grünenfraktionschefin Britta Haßelmann schrieb auf Twitter: »Es ist an uns als Gesetzgeber, Vorkehrungen zu treffen. Jetzt wird im Bundestag eine sorgfältige Prüfung & Erörterung nötig sein, wie dies gestaltet werden kann.«

Mohamed Ali will Sofortprogramm für Pflegekräfte

Die Vorsitzende der Linken-Bundestagsfraktion Amira Mohamed Ali sieht weiteren Handlungsbedarf. »Ich halte den Beschluss für richtig. Neben der gesetzlichen Regelung, die nun kommen muss, braucht es aber vor allem entschlossenes politisches Handeln, um zu verhindern, dass es zu Triage kommt«, sagte Mohamed Ali dem SPIEGEL.

Deshalb brauche es umgehend ein Programm zur Rückgewinnung von Pflegekräften. »Bonuszahlungen für alle Pflegekräfte, höhere Löhne und bessere Personalschlüssel sind der richtige Weg«, so Mohamed Ali. Dass die Bundesregierung »praktisch nichts unternimmt, um für mehr Pflegepersonal in den Krankenhäusern zu sorgen, ist schlicht unverantwortlich«.

bbr/cos/til/sev/ani/dpa
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