Polizeibericht aus Chemnitz "Hundert vermummte Personen suchen Ausländer"

"Es gab keinen Mob, es gab keine Hetzjagd, und es gab keine Pogrome": So bewertete Sachsens CDU-Ministerpräsident Kretschmer die Ereignisse in Chemnitz. Ein interner Polizeibericht legt etwas anderes nahe.
Rechtsgerichtete Demonstranten in Chemnitz (27. August)

Rechtsgerichtete Demonstranten in Chemnitz (27. August)

Foto: MATTHIAS RIETSCHEL/ REUTERS

Ein sogenannter interner Lagefilm der Polizei konterkariert Aussagen von Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) über die Ereignisse in Chemnitz. Die ZDF-Sendung "Frontal 21" konnte den Bericht nach eigenen Angaben einsehen und auswerten . Demnach hatte es die Polizei in Chemnitz am 27. August mit einer intensiven Bedrohungssituation zu tun: In dem Bericht ist demnach detailreich beschrieben, wie nach Demonstrationen der AfD und der rechtsgerichteten Bewegung "ProChemnitz" Gewalttäter durch die Stadt marodierten.

Der Polizeibericht spricht von "Vermummten", die sich "mit Steinen bewaffnen", "Ausländer suchen" und ein jüdisches Restaurant überfallen. Kretschmer sagte in einer Regierungserklärung am 5. September im sächsischen Landtag: "Ich bin der Überzeugung, dass Rechtsextremismus die größte Gefahr für unsere Demokratie ist." Bisher sei es nicht gelungen, den Rechtsextremismus in Sachsen endgültig in die Schranken zu weisen. Doch das Geschehen müsse auch richtig beschrieben werden. "Klar ist: Es gab keinen Mob, keine Hetzjagd und keine Pogrome."

Einige Tage später ging die sächsische CDU auch auf ihrer Facebookseite in die Offensive. Mit der Bemerkung versehen "Noch mal zum Mitschreiben!" zeigte die Landespartei den Ausschnitt aus der Regierungserklärung und fordert die User auf, den Beitrag zu teilen.

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Kretschmer sei zum Zeitpunkt seiner Regierungserklärung der Lagefilm der Polizei nicht bekannt gewesen, sagte sein Sprecher dem SPIEGEL. "Das hätte aber auch nichts an seinen Aussagen geändert."

Den "Frontal 21"-Recherchen zufolge liefen am 27. August ab 19 Uhr laut Einsatzbericht bei der Polizei mehrere Meldungen darüber ein, dass gewaltbereite Hooligans aus anderen Bundesländern nach Chemnitz anreisen: "Vermutlich handelt es sich um Personen, die intensiv Kampfsport betreiben, gewaltsuchend sind."

Zu dieser Zeit kam es demnach am Bahnhofsvorplatz schon zu Handgemengen: "Zwei Personen mit Eisenstangen am Bahnhofsvorplatz in Richtung Brückenstraße unterwegs." Die vor Ort agierenden Polizisten hätten gegen 20.30 Uhr im Einsatzstab nachgefragt, welche Maßnahmen sie ergreifen sollten, wenn der Hitlergruß gezeigt werde. Antwort der Zentrale: "1. Beweissicherung, 2. Strafverfolgung, 3. Einschreiten vor Ort nur bei Nichtgefährdung des Gesamteinsatzes."

Aus dem Lagebericht geht dem Magazin zufolge hervor, dass es zwischen 21 Uhr und 22 Uhr mehrfach Versuche rechtsgerichteter Gewalttäter gab, linke Demonstranten oder Ausländer zu attackieren. Für 21.42 Uhr ist notiert: "Hundert vermummte Personen (rechts) suchen Ausländer." Für 21.47 Uhr vermerkt der Bericht: "20 bis 30 vermummte Personen mit Steinen bewaffnet in Richtung Brühl, Gaststätte Schalom."

Wirt erstattet Anzeige

Wie mittlerweile bekannt ist, wurde das jüdische Restaurant angegriffen. Das sächsische Landeskriminalamt bestätigte, dass der Wirt Anzeige erstattet hat. Demnach wurde das Restaurant von etwa einem Dutzend Neonazis überfallen. Die vermummten, in Schwarz gekleideten Täter hätten "Hau ab aus Deutschland, du Judensau" gerufen und das Lokal mit Steinen, Flaschen und einem abgesägten Stahlrohr beworfen.

Der Besitzer soll während des Angriffs durch einen Stein an der rechten Schulter verletzt worden sein. Die Ermittlungen laufen. Inzwischen hat Ministerpräsident Kretschmer angekündigt, den Mann persönlich zu treffen.

Auslöser für die Proteste in Chemnitz war der gewaltsame Tod eines Deutschen. Der 35-jährige Daniel H. war in der Nacht zum 26. August erstochen worden, zu den Hintergründen ist bisher nichts bekannt. Tatverdächtig sind drei Asylbewerber. Zwei von ihnen sitzen in Untersuchungshaft. Sie stammen nach eigenen Angaben aus Syrien und dem Irak. Nach dem dritten Tatverdächtigen wird gefahndet.

Der Polizeibericht wirft Fragen auf zu Kretschmers Rede im Landtag - und er passt auch nicht zu Äußerungen von Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen. Wegen seiner Aussagen über die Ereignisse in Chemnitz steht Maaßen unter Druck. Der "Bild"-Zeitung sagte Maaßen am 7. September, seinem Dienst lägen "keine belastbaren Informationen darüber vor, dass solche Hetzjagden stattgefunden haben".

Über ein Video, das Übergriffe am 26. August nahe dem Johannisplatz in Chemnitz zeigen soll, sagte Maaßen: "Es liegen keine Belege dafür vor, dass das im Internet kursierende Video zu diesem angeblichen Vorfall authentisch ist." Nach seiner vorsichtigen Bewertung "sprechen gute Gründe dafür, dass es sich um eine gezielte Falschinformation handelt, um möglicherweise die Öffentlichkeit von dem Mord in Chemnitz abzulenken". Seine Äußerungen begründete Maaßen später mit der Sorge vor einer Desinformationskampagne.

Inzwischen hat Maaßen seine Aussagen relativiert. In einem Bericht an Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) behauptet Maaßen nicht mehr, das Video sei nicht echt. Zugleich erhebt Maaßen in dem vierseitigen Report schwere Vorwürfe gegen den Twitternutzer "Antifa Zeckenbiss". Es sei davon auszugehen, dass dieser das Video, das eine "Hetzjagd" belegen sollte, vorsätzlich mit der falschen Überschrift "Menschenjagd in Chemnitz" versehen habe, "um eine bestimmte Wirkung zu erzielen".

Auf die Frage, was ihn vor dem Hintergrund laufender Ermittlungen in Sachsen veranlasst habe, in der Öffentlichkeit eine Einschätzung abzugeben, macht Maaßen demnach deutlich, er habe Sachsens Ministerpräsidenten Kretschmer unterstützen wollen. Das könnte ihn das Amt kosten: SPD, Grüne und Linke fordern seine Entlassung.

Im Video: Die Gewalt in Chemnitz

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wit/dpa
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