SPIEGEL TV Magazin über stigmatisierte Kinder Chinas Schande
Nirgendwo werden so viele Menschen hingerichtet wie in China. Es dürften Tausende sein, jedes Jahr. Genaue Zahlen gibt es nicht, exakte Angaben zur Vollstreckung von Todesstrafen werden als Staatsgeheimnis behandelt.
Was passiert mit den Kindern der vielen Todeskandidaten? Diese Frage hat sich Zhang Shuqin bereits Ende der Achtzigerjahre gestellt. Damals arbeitete sie in einem Gefängnis - und vor den Toren riefen weinende Kinder manchmal wochenlang nach ihrer Mutter oder ihrem Vater.
Denn die chinesische Gesellschaft bestraft die Kinder der Verurteilten oft mit Ausgrenzung und Ablehnung - im Geiste Mao Zedongs, der den Satz prägte: "Der Sohn eines Helden ist ein Held. Und der Sohn eines faulen Eis ist selbst ein faules Ei." Mao ist zwar seit fast 40 Jahren tot, doch die Stigmatisierung gibt es bis heute.
Zhang Shuqin hat das Schicksal der vergessenen Kinder - viele landeten auf der Straße - nicht mehr losgelassen. 1996 kündigte sie ihren Job im Gefängnis und eröffnete am Stadtrand von Peking das erste Heim für Kinder von Todeskandidaten. "Sun Village" heißt es, Sonnendorf. Inzwischen betreibt sie zehn solcher Einrichtungen, finanziert durch Spenden.
"Chinas Schande: Die Waisenkinder der Todeskandidaten"
"Mutter der Mörderkinder" wird Zhang Shuqin in China genannt. Die französische Journalistin Élodie Pakosz hat das Engagement der 66-Jährigen im vergangenen Jahr dokumentiert. SPIEGEL TV Magazin zeigt den Film "Chinas Schande: Die Waisenkinder der Todeskandidaten" nun erstmals auf deutsch (Sonntag, 22.35 Uhr, RTL).
Die Autorin hat seltene Einblicke in den Todestrakt eines chinesischen Gefängnisses bekommen. Normalerweise sind Dreharbeiten dort nicht erlaubt. Der Film bietet eine berührende und zugleich verstörende Szene. Ein dreijähriger Junge sieht zum ersten Mal in seinem Leben seinen zum Tode verurteilten Vater. Tränen fließen. Es ist zugleich die letzte Begegnung der beiden.
Der Film zeigt auch den harten Alltag im Sonnendorf. Die Kinder leben in karg eingerichteten Baracken, selbst bei Minustemperaturen kann nur spärlich geheizt werden. Weil es an Personal mangelt, müssen alle mit anpacken und die Gebäude in Schuss halten.
Aber die Kinder haben dank Zhang Shuqin wieder ein Zuhause. Sie bilden eine Gemeinschaft und können eine nahegelegene Grundschule besuchen. Doch selbst dort bekommen sie zu spüren, dass sie anders sind. "Die Kinder der Todeskandidaten werden von den anderen Schülern oft ausgegrenzt", sagt ein Lehrer.
Élodie Pakosz ist für ihre Dokumentation auch in die Heimat von Kindern aus dem Sonnendorf gereist. Sie hat sich auf die Spuren von zwei Geschwistern gemacht. Diese sind Waisen, seit ihr Vater hingerichtet wurde, weil er die Mutter der Kinder, seine Geliebte und deren Mann getötet hatte.
Das Dorf, in dem die Geschwister aufwuchsen, liegt tausend Kilometer entfernt von Peking. Und obwohl sie dort noch viele Verwandte haben, wollte sich niemand der beiden Kinder annehmen.
"Wir sind zu alt und zu arm, um uns um sie kümmern", sagen die Großeltern. Sie hätten eine Ersatzfamilie für ihre Enkel gesucht, aber keine gefunden. "Niemand wollte etwas mit dem Skandal zu tun haben." Auch keines der fünf Geschwister der Mutter war bereit, die Kinder aufzunehmen. Die Angst vor der Schande ist stärker als das Mitgefühl.
"Chinas Schande: Die Waisenkinder der Todeskandidaten", Sonntag, 09. August 2015, 22.35 Uhr, RTL