Pharmaskandal
Conterganstiftung will 58 Opfern lebenslange Entschädigung streichen
Seit Jahrzehnten erhalten Betroffene des Contergan-Skandals monatlich eine Entschädigung. Nach Informationen von SPIEGEL, NDR und SWR will die zuständige Stiftung diese Zahlungen nun für Dutzende Opfer einstellen.
Pharmaunternehmen Grünenthal: "Keine Veranlassung, an dieser Bewertung zu zweifeln"
Foto: Henning Kaiser/ DPA
Die Conterganstiftung will 58 brasilianischen Opfern der Pharmafirma Grünenthal die lebenslangen Entschädigungszahlungen streichen.
Das geht aus einem Brief hervor, den die Stiftung Mitte Oktober an die Betroffenen verschickte. Nach Informationen von SPIEGEL, NDR und SWR verkündet die Stiftung darin, dass sie die Anerkennungsbescheide "mit Wirkung für die Zukunft zu widerrufen" beabsichtige. Zudem werde "die sofortige Vollziehung" angeordnet.
In all diesen Fällen haben die Mütter der Betroffenen in der Frühphase ihrer Schwangerschaft das Medikament Sedalis eingenommen, das den verhängnisvollen Wirkstoff Thalidomid enthielt. Der Wirkstoff stammte von der deutschen Firma Chemie Grünenthal GmbH, dem Hersteller des Skandalmedikaments Contergan.
Die Conterganstiftung begründet ihr Vorgehen damit, dass Sedalis kein Präparat der Grünenthal GmbH sei, sondern ein Medikament, "welches durch einen Lizenznehmer in eigener Verantwortung hergestellt und vertrieben wurde". Die Conterganstiftung sei nicht für die Entschädigungen zuständig. Die Betroffenen aus Brasilien waren vor teilweise mehr als 45 Jahren als Entschädigungsberechtigte anerkannt worden, weil die Conterganstiftung das Schlafmittel Sedalis als Grünenthal-Präparat bewertete.
130 Millionen Euro an Renten - in einem Jahr
Die Firma Grünenthal distanzierte sich auf Nachfrage von SPIEGEL, NDR und SWR nun von der neuen Aussage der Conterganstiftung, Sedalis sei kein Medikament von Grünenthal. Der Pharmakonzern erklärte, "mit solchem Vorgehen nicht einverstanden" zu sein: "Die Conterganstiftung hat durch ihre verantwortlichen Gremien vor beinahe 50 Jahren in Kenntnis der Umstände entschieden, dass Sedalis ein Produkt war, das unter das Conterganstiftungsgesetz fällt." Grünenthal sehe "keine Veranlassung, an dieser Bewertung zu zweifeln".
Das Familienministerium als Aufsichtsbehörde erklärte, die Stiftung habe aus eigenem Entschluss die Schreiben verschickt. Das Ministerium habe vom Inhalt keine Kenntnis gehabt. Derzeit gibt es weltweit 2584 Thalidomid-Geschädigte, die monatliche Renten von rund 700 bis 8000 Euro erhalten. Die Summe dieser Renten belief sich im vorigen Jahr auf fast 130 Millionen Euro, weitere 27 Millionen Euro schüttete die Stiftung für Pauschalen aus.
Die Summe der Entschädigungszahlungen, die vom deutschen Staat über die Stiftung an die brasilianischen Opfer bezahlt wird, belief sich im Jahr 2018 auf rund 2,8 Millionen Euro.