Bundesverfassungsgericht Gesetzgeber muss Menschen mit Behinderung bei Triage schützen

Wie wird priorisiert, wenn die Intensivbetten in der Coronakrise nicht mehr reichen? Das Bundesverfassungsgericht hat nun entschieden, dass es für diese sogenannte Triage gesetzliche Vorgaben geben muss.
Covid-19-Patient auf einer Intensivstation (Archivbild): Es geht um Leben und Tod

Covid-19-Patient auf einer Intensivstation (Archivbild): Es geht um Leben und Tod

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Fabian Strauch / dpa

Der Gesetzgeber muss unverzüglich Vorkehrungen zum Schutz behinderter Menschen im Falle einer pandemiebedingten Triage treffen. Das hat das Bundesverfassungsgericht entschieden und damit der Verfassungsbeschwerde mehrerer behinderter Menschen stattgegeben.

Aus dem Schutzauftrag wegen des Risikos für das höchstrangige Rechtsgut Leben folge eine Handlungspflicht für den Gesetzgeber. Diese habe er verletzt, weil er keine entsprechenden Vorkehrungen getroffen habe, teilte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe mit . Er müsse dieser Pflicht in Pandemiezeiten nachkommen. Bei der konkreten Ausgestaltung habe er Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum.

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Das Wort Triage stammt vom französischen Verb »trier«, das sortieren oder aussuchen bedeutet. Es beschreibt eine Situation, in der Ärzte entscheiden müssen, wen sie retten und wen nicht – zum Beispiel, wenn so viele schwerstkranke Covid-19-Patienten in die Krankenhäuser kommen, dass es nicht genug Intensivbetten gibt.

Bisherige Leitlinie nicht verbindlich

Neun Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen hatten Verfassungsbeschwerde eingereicht. Sie befürchten, von Ärzten aufgegeben zu werden, wenn keine Vorgaben existieren. Das höchste deutsche Gericht gab ihnen nun recht. Niemand dürfe wegen einer Behinderung bei der Zuteilung überlebenswichtiger, nicht für alle zur Verfügung stehenden intensivmedizinischen Behandlungsressourcen benachteiligt werden.

Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) hatte mit anderen Fachgesellschaften »Klinisch-ethische Empfehlungen« erarbeitet. Die Klägerinnen und Kläger sehen die dort genannten Kriterien mit Sorge, weil auch die Gebrechlichkeit des Patienten und zusätzlich bestehende Krankheiten eine Rolle spielen. Sie befürchten, aufgrund ihrer statistisch schlechteren Überlebenschancen immer das Nachsehen zu haben.

Das Verfassungsgericht erläuterte, die Empfehlungen der Divi seien rechtlich nicht verbindlich und »kein Synonym für den medizinischen Standard im Fachrecht«. Zudem weist es auf die möglichen Risiken bei der Beurteilung hin, die sich aus den Empfehlungen ergeben könnten. Es müsse sichergestellt sein, »dass allein nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden wird«.

Eilantrag im Sommer abgewiesen

Der Gesetzgeber habe mehrere Möglichkeiten, dem Risiko einer Benachteiligung wegen einer Behinderung bei der Zuteilung pandemiebedingt knapper intensivmedizinischer Ressourcen wirkungsvoll zu begegnen, befand das Gericht. Als Beispiel wurden Vorgaben für ein Mehraugenprinzip bei Auswahlentscheidungen genannt oder Regelungen zur Unterstützung vor Ort. »Der Gesetzgeber hat zu entscheiden, welche Maßnahmen zweckdienlich sind«, hieß es in der Mitteilung.

Die Verfassungsbeschwerde ist schon seit Mitte 2020 in Karlsruhe anhängig. Damit verbunden war auch ein Eilantrag – den die Richterinnen und Richter des zuständigen Ersten Senats unter Gerichtspräsident Stephan Harbarth allerdings abgewiesen hatten. Sie teilten damals mit, das Verfahren werfe schwierige Fragen auf, die nicht auf die Schnelle beantwortet werden könnten.

bbr
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