Besucheransturm im Oberharz: Regierung will Bewegung und Kontakte weiter reduzieren
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Diese neue Corona-Maßnahme der Regierung erregte wohl das größte Aufsehen – und auch große Verwunderung: In Landkreisen mit Inzidenzwerten von mehr als 200 soll der Bewegungsradius auf 15 Kilometer um den Wohnort begrenzt werden. Warum gerade 15 Kilometer? Und warum erst ab dieser Inzidenz?
Auch in den einzelnen Bundesländern wird die Regel teilweise skeptisch gesehen. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) kündigte an, aktuell nicht damit zu planen. Sein niedersächsischer Amtskollege Stephan Weil (SPD) sagte: »Das ist für uns Teil des Prüfprogramms, ob und wann die Regelung zur Anwendung kommt, am liebsten gar nicht.« Eine gesonderte Begründung zur Verhältnismäßigkeit sei notwendig.
Wie sehen Juristen die Regelung?
Er habe »gewisse Zweifel« an der Rechtmäßigkeit der Maßnahme, sagt Thorsten Kingreen. Er ist Professor für Öffentliches Recht, Sozialrecht und Gesundheitsrecht an der Universität Regensburg und vermutet, dass die Einschränkung des Bewegungsradius vor den Gerichten keinen Bestand haben wird. Eine Ausgangsbeschränkung sei nach dem Infektionsschutzgesetz zwar zulässig, aber nur unter bestimmten Voraussetzungen, nämlich dann, wenn man dem Virus auf andere Art nicht mehr Herr werde.
Die Anwältin Juliane Hilf von der Kanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer betrachtet die Maßnahme hingegen grundsätzlich als geeignet, weist aber auch darauf hin, dass es in der aktuellen Situation schwierig sei, von richtig oder falsch zu sprechen. »Wir befinden uns in einer vollkommen neuen Situation. Es gibt keine Präzedenzfälle, auf die man sich hier berufen könnte.« Erfahrungen aus der ersten Welle und dem Ausland hätten gezeigt, dass Beschränkungen der Bewegungsfreiheit grundsätzlich ein geeignetes Mittel seien, um das Infektionsgeschehen einzudämmen.
Lassen sich Ausnahmen festlegen?
Fraglicher ist für Hilf der Aspekt der Verhältnismäßigkeit, denn die Regel greift massiv in die Freiheitsrechte des Einzelnen ein. Die aktuelle Situation rechtfertige das jedoch, so die Juristin, die Mitglied des Ausschusses Verwaltungsrecht des Deutschen Anwaltvereins ist. Wichtig sei allerdings, dass die Maßnahme zeitlich beschränkt werde und es gegebenenfalls Ausnahmen gebe – etwa für Arztbesuche in größerer Entfernung. Sie geht davon aus, dass die Regelung vor den Gerichten der meisten Bundesländer Bestand haben würde.
Kingreen hält die 15-Kilometer-Regelung aus zwei Gründen für problematisch: Zum einen gebe es in der aktuellen Situation »keine belastbaren Zahlen«, die eine Verschärfung rechtfertigten, zum anderen bezweifelt er die Eignung der Maßnahme an und für sich: »Wenn ich allein 50 Kilometer mit dem Auto von meinem Wohnort wegfahre, bin ich wesentlich ungefährlicher, als wenn ich innerhalb von fünf Kilometern mehrere Leute treffe.« Kingreen geht davon aus, dass der Hintergrund der 15-Kilometer-Regelung vor allem die Menschenansammlungen in Wintersportgebieten sind. »Man identifiziert ein lokal begrenztes Fehlverhalten und reagiert mit pauschalen Verboten«, sagt er. Dem Tagestourismus in diesen Regionen könne man entgegenwirken, indem man die Zufahrtsstraßen sperre.
Eine Erklärung für die Festlegung der Grenze auf 15 Kilometer haben die Juristen nicht, Hilf spricht von einer »politischen Entscheidung«. Allerdings seien zu enge Grenzen vermutlich nicht mehr verhältnismäßig, zu lockere wenig effektiv. Kingreen verweist darauf, dass der Wert »historisch aus Sachsen« stamme und das Oberverwaltungsgericht die Regelung dort im Frühjahr für rechtmäßig erklärt hatte. Die heutige Situation sei damit aber nicht mehr vergleichbar.
Kritisch sieht Kingreen auch, dass nicht nach Bevölkerungsdichte, nach Stadt und Land differenziert wird: »Man darf sich nur noch in einem kleinen Umfeld bewegen. Das ist für Stadtbewohner nicht so ein großes Problem, auf dem Land jedoch durchaus.«
»Der Bundestag müsste wieder viel stärker mit einbezogen werden«
Kingreen würde die Maßnahme erst in einem Szenario gutheißen, in dem »jemand es gut begründet, dass Reisen über 15 Kilometer hinaus tatsächlich auf das Infektionsgeschehen irgendeinen Einfluss haben«. Diese Begründung fehle ihm bislang. Darüber hinaus hält er sie für wenig praktikabel: »Es ist von vornherein klar, dass diese Regel nicht kontrollierbar ist«, sagt der Juraprofessor. Von derartigen Regelungen könne er »nur abraten«, auch um den Rückhalt in der Bevölkerung nicht zu verlieren. Auch Polizeigewerkschafter und der Deutsche Städte- und Gemeindebund haben Zweifel an der Durchsetzbarkeit der Maßnahmen geäußert. Anwältin Hilf hingegen verweist auch auf die »Warnfunktion« der Regelung und potenzieller Bußgelder.
Immer wieder hatten Gerichte einzelne Corona-Maßnahmen gekippt – wie etwa vor Silvester das generelle Böllerverbot in Niedersachsen. Für Juliane Hilf kein Hinweis darauf, dass das Vorgehen von Bund und Ländern grundsätzlich problematisch ist. Es sei nicht ungewöhnlich, dass Gerichte nicht mit jeder Entscheidung des Gesetzgebers einverstanden seien: »Bei der Abwägung von Freiheitsrechten Einzelner einerseits und dem Schutz von Leben und Gesundheit sowie der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems andererseits gibt es viele Antworten.«
Kingreen betrachtet das kritischer: »Ich sehe einen Gewöhnungseffekt. Man erklärt einzelne Maßnahmen nicht mehr, sondern macht einfach alles, was irgendwie geht.« Außerdem kritisiert er, wie die Maßnahmen überhaupt zustande kommen: »Der Bundestag müsste wieder viel stärker mit einbezogen werden. Stattdessen hangeln wir uns von Ministerpräsidentenkonferenz zu Ministerpräsidentenkonferenz – einem Gremium, das verfassungsmäßig gar nicht vorgesehen ist.«