Behördenrechte in Zeiten von Corona "Notfalls dürften Beamte Zwang anwenden"

Saarland: Am Grenzübergang zu Frankreich kontrollieren Polizeibeamte stichprobenartig den aus Frankreich einfahrenden Verkehr
Foto:Thomas Frey/ dpa
SPIEGEL: Frau Wienhues, immer wieder hieß es, in einem autoritären und zentralistischen Staat wie China könnte man die Ausbreitung des Coronavirus besser bekämpfen als bei uns. Stimmt das?
Wienhues: Nein. Rechtlich sind wir durchaus gerüstet. Bei uns ist hier in erster Linie das Infektionsschutzgesetz anwendbar. Dieses gibt Landesregierungen und Gesundheitsbehörden ein breites Instrumentarium zur Hand: Das reicht von Meldepflichten über Quarantäne-Bestimmungen, Einschränkungen der Bewegungs- und Reisefreiheit, Tätigkeitsverboten für bestimmte Berufsgruppen, Absagen von Veranstaltungen bis zur Schließung öffentlicher Einrichtungen wie Schwimmbädern, Kindergärten und Schulen . Ausdrücklich kann durch solche Maßnahmen in die Grundrechte der Freiheit der Person, in das Brief- und Postgeheimnis, die Versammlungsfreiheit und die Unverletzlichkeit der Wohnung eingegriffen werden.
SPIEGEL: In Italien wurden zunächst Sperrzonen eingerichtet, die man nur mit besonderer Begründung verlassen durfte, jetzt gibt es im ganzen Land solche Beschränkungen. Im deutschen Infektionsschutzgesetz ist aber an keiner Stelle von Sperrzonen die Rede.
Wienhues: Nicht ausdrücklich. Aber neben der Quarantäne für kranke oder ansteckungsverdächtige Personen bietet das Infektionsschutzgesetz auch die Möglichkeit, Betroffenen entweder zu untersagen, den Ort, an dem sie sich befinden, zu verlassen oder bestimmte Orte zu betreten. Faktisch kann das durchaus regionalen Sperrzonen gleichkommen.
SPIEGEL: Typischerweise steigt innerhalb einer solchen Sperrzone erst einmal das Ansteckungsrisiko für den Einzelnen - wäre es dann nicht sein gutes Recht, aus einer solchen Zone zu fliehen?
Wienhues: Wenn es zu einer solchen Anordnung gekommen ist, gibt es auf diese Frage nur ein klares "Nein". Schutzziel des Gesetzes ist eben nicht nur Leben und Gesundheit des Einzelnen, sondern der Schutz der Gemeinschaft vor der weiteren Ausbreitung der Infektion. Dazu gehört auch, die Stabilität unseres Gesundheitssystems zu sichern – denn wenn dieses zusammenbricht, können noch viel mehr Leute sterben, und zwar an ganz anderen Erkrankungen, weil diese nicht mehr adäquat behandelt werden können. In so einem Fall müssen die Interessen des Einzelnen dann zurücktreten.
SPIEGEL: Wie ließe sich die Einhaltung solcher Sperrzonen überhaupt überwachen?
Wienhues: Man würde sicher Kontrollstellen einrichten. Es ist kein Problem, Menschen, die ein solches Gebiet verlassen wollen, freundlich darauf hinzuweisen, dass sie das nicht dürfen. Notfalls dürften Beamte der Ordnungsbehörden oder der Polizei sogar unmittelbaren Zwang anwenden, also letztlich körperliche Gewalt. Dabei ist aber auf die Verhältnismäßigeit zu achten. Mehr, als dass Polizisten, die am Rande eines Sperrgebietes stehen, mal jemanden festhalten, kann ich mir hierzulande nicht vorstellen. Und bei Verstößen drohen natürlich Bußgelder, in manchen Fällen sogar Strafen.
SPIEGEL: Dürften die Polizisten notfalls auch zur Schusswaffe greifen, um jemanden am Verlassen der Schutzzone zu hindern?
Wienhues: Ich kann mir nicht vorstellen, dass das verhältnismäßig wäre. Wir kennen den "finalen Rettungsschuss" im Polizeirecht bei unmittelbarer Lebensgefahr. Aber nur weil der Einzelne die Sperre durchbricht, sterben ja weiter hinten nicht sofort andere Leute.
Am 31. Dezember 2019 wandte sich China erstmals an die Weltgesundheitsorganisation (WHO). In der Millionenstadt Wuhan häuften sich Fälle einer rätselhaften Lungenentzündung. Mittlerweile sind mehr als 180 Millionen Menschen weltweit nachweislich erkrankt, die Situation ändert sich von Tag zu Tag. Auf dieser Seite finden Sie einen Überblick über alle SPIEGEL-Artikel zum Thema.
SPIEGEL: In Italien mussten selbst Restaurants und Geschäfte schließen - eigentlich alle, bei denen es sich nicht um Apotheken oder Geschäfte für den täglichen Bedarf handelt. Ginge das auch bei uns?
Wienhues: Auch das ist zwar nicht ausdrücklich vorgesehen, man könnte aber auch hier nach dem Infektionsschutzgesetz mit Betretungsverboten operieren. Selbst Werksschließungen sind auf diese Art möglich: Die Behörden untersagen den Arbeitern und Angestellten, ein bestimmtes Firmengelände zu betreten.
SPIEGEL: In vielen Bundesländern werden Schulen und Kitas geschlossen – allerdings nicht für alle Kinder. Die Lehrer und Betreuer stehen weiter zur Verfügung, und wenn beide Eltern oder Alleinerziehende in einem sogenannten systemrelevanten Beruf arbeiten, etwa im Gesundheitswesen oder als Polizisten, dürfen sie ihre Kinder trotzdem in die Kita bringen. Ist das zulässig?
Wienhues: Bei allen Anordnungen muss die zuständige Stelle ja abwägen. Hier wird offensichtlich, dass ich zur Aufrechterhaltung des Gesundheitssystems – und das ist aktuell Ziel und Zweck aller Maßnahmen – nicht nur die Verbreitung des Virus verlangsamen muss, sondern auch den Betrieb und die dazu erforderlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus allen Bereichen benötige. Für mich ist diese Abwägung dabei ablesbar. Meine persönliche Meinung ist aber auch, dass man nicht in jedem Punkt und für jede Fallgestaltung darauf warten sollte, dass eine Behörde etwas entscheidet. Das geht von solchen Fragen, wie man nun die Kinderbetreuung organisiert, über Freizeitaktivitäten, die Organisation von Einkäufen, bis hin zum Kontakt mit Verwandten innerhalb von Familien. Wir haben hierzulande viele Freiheiten, und das kann eben auch in einem solchen Fall mal anstrengend sein - weil man eigenständig mitunter sehr schwierige Entscheidungen treffen muss. Wir haben jetzt einfach eine Situation, mit der wir gemeinsam und verantwortlich umgehen müssen.
SPIEGEL: Könnte auch der öffentliche Nahverkehr eingestellt werden?
Wienhues: Die Schließung des öffentlichen Nahverkehrs ist zwar nicht ausdrücklich im Gesetz vorgesehen. Theoretisch wäre aber denkbar, dass man den Bürgern untersagt, Bahnhöfe und U-Bahnhöfe zu betreten. Und damit den öffentlichen Nahverkehr einfach faktisch einstellt.
SPIEGEL: Was passiert, wenn man sich einer häuslichen Quarantäne widersetzt?
Wienhues: Wenn jemand sich der Quarantäne widersetzt, darf er zum Beispiel in ein Krankenhaus gebracht und dort festgehalten werden. Und dort darf man alles tun, was erforderlich ist, auch um den ordnungsgemäßen Betrieb der Einrichtung aufrechtzuerhalten. Das heißt, notfalls dürfte man ihn dort sogar im Bett fixieren, wenn er andernfalls auszubrechen droht.
SPIEGEL: Was darf jemand, der in häuslicher Quarantäne ist, dann eigentlich noch machen? Darf er zum Beispiel den Müll runterbringen? Darf er die Wohnungstür aufmachen, um Dinge in Empfang zu nehmen? Darf er jemand anderem Geld geben, um für ihn etwas einzukaufen?
Wienhues: Die Behörde sollte dazu nähere Anordnungen erlassen oder allgemeine Erläuterungen. Gibt es die nicht, würde ich ganz persönlich sagen, grundsätzlich ist jeder Kontakt nach außen zu vermeiden. Dabei wird man aber sicher auch berücksichtigen, dass sich nach meinem Kenntnisstand bis jetzt in der häuslichen Isolation ja keine Personen mit bestätigter Infektion befinden, sondern Verdachtsfälle, insbesondere ohne Symptome. Da gilt es dann vielleicht besondere Hygienemaßnahmen für den absolut notwendigen Kontakt nach außen zu berücksichtigen, zum Beispiel das gründliche Händewaschen auch vor dem Herausbringen des Mülls - und nicht nur, wie üblich, danach. Und das mit dem Geld kann ja vielleicht warten, bis die Quarantäne vorbei ist.
SPIEGEL: Bekämen wir das Virus besser in den Griff, wenn wir nicht föderal, sondern zentralistisch organisiert wären?
Wienhues: Zurzeit wird zwar der "föderale Flickenteppich" beklagt. Es entspricht aber unserem allgemeinen Staatsverständnis, dass wir föderal organisiert sind. Das muss nicht immer gleich über den Haufen geworfen werden. Entscheidend ist, dass die Staatsmacht handelt – wer das macht, ist egal. Auch in einem zentralistischen System gebe es ja in der Regel örtliche Zuständigkeiten.
SPIEGEL: In manchen Punkten hätte man sich aber vielleicht doch an allen Orten ein gleich rigoroses Vorgehen gewünscht. Selbst Schulen werden ja jetzt noch nicht überall geschlossen.
Wienhues: Richtig ist, dass der Bund keine Durchgriffsrechte hat, die Eingriffsbefugnisse gegenüber dem einzelnen Bürger liegen bei den Ländern. Bund und Länder stimmen sich aber ab, um ein gemeinsames Vorgehen und einen einheitlichen Informationsfluss sicherzustellen. Zudem enthält das Infektionsschutzgesetz durchaus ein zentralistisches Element – nämlich über die wissenschaftliche Zuständigkeit des Robert Koch-Instituts. Durch das Gesetz ist bestimmt, dass dieses auch gegenüber den Ländern Amtshilfe leistet. In wissenschaftlich-medizinischer Hinsicht hat damit das Robert Koch-Institut gegenüber den Ländern das Sagen. Das ist auch sehr sinnvoll, damit wir nicht zu viele selbst ernannte Sachverständige haben.
Coronavirus: Coronaviren sind eine Virusfamilie, zu der auch das derzeit weltweit grassierende Virus Sars-CoV-2 gehört. Da es anfangs keinen Namen trug, sprach man in den ersten Wochen vom "neuartigen Coronavirus".
Sars-CoV-2: Die WHO gab dem neuartigen Coronavirus den Namen "Sars-CoV-2" ("Severe Acute Respiratory Syndrome"-Coronavirus-2). Mit der Bezeichnung ist das Virus gemeint, das Symptome verursachen kann, aber nicht muss.
Covid-19: Die durch Sars-CoV-2 ausgelöste Atemwegskrankheit wurde "Covid-19" (Coronavirus-Disease-2019) genannt. Covid-19-Patienten sind dementsprechend Menschen, die das Virus Sars-CoV-2 in sich tragen und Symptome zeigen.
SPIEGEL: Manche Empfehlung wurde aber offenbar nicht überall als gleich dringlich wahrgenommen.
Wienhues: Es ist durchaus möglich, dass sich auch aus den jeweiligen Umständen vor Ort unterschiedliche Bewertungen der Gefährdung und damit unterschiedlich weitgehende Maßnahmen ergeben. Das bedeutet aber nicht, dass sich eine Landesregierung oder eine Gesundheitsbehörde einer eindeutigen Empfehlung des Robert Koch-Instituts verschließen würde.
SPIEGEL: Wäre denkbar, dass sich jemand einer Quarantäne oder einer anderen Einschränkung unmittelbar widersetzen kann, indem er die Gerichte anruft?
Wienhues: Nein. Man kann zwar die rechtliche Zulässigkeit solcher Maßnahmen klären lassen, gegebenenfalls auch in einem Eilverfahren. Man muss sich aber erst einmal fügen: Widerspruch und Klage haben hier keine aufschiebende Wirkung – betroffene Bürger müssen solche Anordnungen also bis zu einer möglichen anderslautenden Gerichtsentscheidung befolgen.