
Crime Mapping Landkarten des Bösen
Drei Morde an Kindern hat der Verdächtige Martin N. gestanden. Das dürfte für ein Lebenslänglich-Urteil reichen. Doch die Sonderkommission "Dennis", so benannt nach einem von N.s Opfern, ist mit ihren Ermittlungen noch lange nicht am Ende. Die Beamten vergleichen grenzübergreifend unaufgeklärte Kindsmorde aus den letzten 20 Jahren mit den Aktivitäten und Reisen des Inhaftierten. Ohne die Hilfe modernster Technik, die es ermöglicht, Bewegungsprofile oder Lagebilder zu erstellen, hätten die Ermittler allerdings kaum eine Chance.
Lagebilder werden von Kriminalgeografen erstellt: Auf einem Stadtplan oder einer Landkarte werden mittels geografischer Informationen und raum-zeitlicher Koordinaten Tatorte und Täter miteinander verknüpft - und mögliche Parallelen interpretiert. Im Fall Martin N. Aufenthalte des Täters in Ferienheimen oder Jugendfreizeiten und Orte, an denen ein Kind verschwand. Crime Mapper, wie sie im Fachjargon heißen, können einen Serienzusammenhang von Taten identifizieren, die den vor Ort tätigen Spurensuchern, den operativen Ermittlern, nicht auffallen würden.
Dazu brauchen die Spezialisten eine Software namens GIS, sogenannte Geografische Informationssysteme. GIS ist eine Standard-Software, wie sie auch Google View benutzt, die aber nach bestimmten kriminaltechnischen Anforderungen mit unterschiedlichen Tools aufgerüstet wurde. GIS ist als Verbindung von Geografie und gespeicherten Daten für die Bekämpfung der modernen Kriminalität so unverzichtbar, wie Fingerabdrücke oder DNA oder Biometrik es sind.
Die Ideen liefert ein Mensch, die Software setzt sie nur um
So lässt sich zum Beispiel lückenlos nachweisen, wann und wo mit einem Handy telefoniert und ob ein bestimmtes Mobiltelefon zeitlich und räumlich aktiviert wurde, bevor kurz darauf ein Verbrechen stattfand. GIS ist nicht nur ein Programm, nicht nur ein System, nicht nur Technologie auf höchstem Niveau, GIS ist die entscheidende Waffe der Crime Mapper, denn nur mit GIS können sie in digitalen Landkarten das Böse sichtbar machen. Es bleibt die Aufgabe der Ermittler, Verdächtigen nachzuweisen, dass ihre Beziehung zu bestimmten GIS-Daten kein Zufall ist. Mit den Daten haben sie eine ziemlich überzeugende Waffe in der Hand.
Mit dem System, dessen Software von Spezialfirmen entwickelt wurde und das laufend verbessert wird, lassen sich Informationen über Objekte, Personen, Stromverbrauch, den Einsatz von Kreditkarten und Reiserouten aus Datenbanken, Satellitenfotos oder von der Spurensicherung holen und zu einem kriminalgeografischen Gesamtbild vereinen.
Die Kunst eines Crime Mappers besteht darin, alle denkbaren Verbindungen durchzuspielen und zu testen, um auf den möglicherweise entscheidenden Punkt zu stoßen. Die Ideen liefert jedoch nicht die Software, die setzt sie nur um. Die Ideen liefert ein Mensch.
Dienstpläne, Urlaubszeiten - alles ist von Bedeutung
Was man aus den allgemein zugänglichen Daten der Geografie erfährt, reicht für die Oberfläche - Flüsse, Städte, Straßen, Wälder. Mit GIS werden zum Beispiel Tatorte geordnet, um sogenannte Ankerpunkte zu finden. Ankerpunkte sind ein oder mehrere Orte, die im Leben eines Täters eine zentrale Rolle spielen oder gespielt haben, und zwar so zentral, dass er die Umgebung gut kennt - also nach einer Tat fliehen kann, ohne sich zu verlaufen. Das ist der heutige Wohnort, das sind frühere Wohnorte. Im Fall Martin N. sind es Standorte von Ferienheimen, Zeltlagern, Schullandheimen, die er als Jugendbetreuer alle kannte.
Was dann auf der Landkarte auftaucht, sind viele rote Punkte. Sie stehen für die Tatorte. Die Linien zwischen ihnen könnten die Wege möglicher Täter oder eines Täters darstellen - hin zum Tatort oder zurück nach Hause. Genau diese vielen roten Punkte werden jetzt verglichen mit anderen Punkten, blauen zum Beispiel, die aus dem Leben eines Verdächtigen ermittelt wurden - mit Hilfe gespeicherter Daten einer Kreditkarte, möglichen Auskünften eines Mobilfunk-Providers, Dienstplänen und Urlaubszeiten.
Die Vorteile von GIS für Ermittlungen haben englische Polizeibehörden und vor allem die Metropolitan Police Services (MPS), auch bekannt als Scotland Yard, früher als andere erkannt: Rund 400 Crime Mapper werden regelmäßig eingesetzt für den Kampf gegen das moderne Verbrechen. Kriminalisten aller deutschen Landeskriminalämter lassen sich inzwischen auch an GIS schulen, um digitale Landkarten des Verbrechens strategisch und operativ einzusetzen.
Die Zeiten, in denen Stecknadeln in Landkarten gepinnt wurden, gehören der Vergangenheit an. Die Beamten vom bayerischen Landeskriminalamt haben nicht nur GIS in ihre kriminalistische Arbeit integriert, sie benutzen außerdem ein hochmodernes Visualisierungssystem des Verbrechens, abgekürzt Gladis - Geografisches Lage-, Analyse-, Darstellungs- und Informationssystem. Damit lassen sich jederzeit alle Straftaten in München oder Bayern aufrufen, die zu einer bestimmten Tages- oder Nachtzeit und in einer bestimmten geografischen Umgebung begangen wurden.
Alle eingegebenen Informationen, die GIS intelligent verknüpft und dann als dreidimensionale farbige Grafik auf dem Monitor eines Crime Mappers auswirft, sind zwar substantiell. Immer aber bleiben Zweifel. Die Analysen liefern Wahrscheinlichkeiten, mehr nicht. Doch mit denen konfrontiert, das lehrt die kriminalistische Erfahrung, sehen viele Täter nur noch einen Ausweg: zu gestehen.
Darauf bauen auch die Beamten der Sonderkommission "Dennis".