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Toter Attentäter von Toulouse Fahnder suchen nach möglichen Merah-Komplizen

Frankreich rätselt über den Fall Mohammed Merah - das Vermächtnis des erschossenen Serienmörders wird das Land noch lange beschäftigen. Die Suche nach Erklärungen für seine Radikalisierung hat gerade erst begonnen. Fahnder versuchen nun zu ermitteln, ob er Mitwisser und Komplizen hatte.

Toulouse/Paris - Die Belagerung des Hauses Nummer 17 in der Rue du Sergent Vigne in Toulouse ist beendet, Attentäter Mohammed Merah ist tot - erschossen von französischen Elitepolizisten. Vorausgegangen war am späten Vormittag ein mehrminütiges Feuergefecht, bei dem laut Polizei etwa 300 Kugeln verschossen wurden. Letztlich starb Merah durch die Kugel eines Scharfschützen, die ihn in den Kopf traf.

Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy rechtfertigte die Erschießung damit, dass nicht noch weitere Leben hätten riskiert werden sollen. Merahs Anwalt Christian Etelin, der seinen Mandanten seit der Jugend immer wieder vor Gericht verteidigt hatte, sagte: "Uns ist eine Möglichkeit entgangen, den Menschen zu verstehen."

Mit dem Zugriff der Spezialeinheit endete die akute Krise, doch die Aufarbeitung des Falles hat gerade erst begonnen. Der Fall Merah wird bereits von der Rechten politisch instrumentalisiert. Die Arbeit der Geheimdienste steht im Fokus. Und es stellt sich die Frage, ob der Serienmörder allein handelte oder zumindest Unterstützter im Hintergrund hatte.

"Eine solche Aktion kann man nicht ohne Mittäterschaft durchführen", sagte Mathieu Guidère, ein Experte für das Terrornetzwerk al-Qaida, der Zeitung "Figaro". Jemanden müsse Merah zumindest mit der Waffe und der Munition versorgt haben. Die Behörden halten die These von Helfern im Hintergrund offenbar auch für plausibel. Die Ermittlungen würden fortgesetzt, bis "alle Komplizen" ausfindig gemacht seien, sagte Staatsanwalt François Molins. Unter anderem wurde bislang etwa Merahs Bruder in Polizeigewahrsam genommen.

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Toulouse: Zugriff auf Mohammed Merah

Foto: AFP/ France 2

Für die Existenz von Komplizen könnte auch sprechen, dass sich nach dem Ende der Belagerung eine Gruppe namens Dschund al-Chilafah ("Die Soldaten des Kalifats") zu den Merahs zugeschriebenen Anschlägen bekannte. In dem online veröffentlichen Bekennerschreiben heißt es, mit den "Taten des Gesegneten" seien unter anderem die Verbrechen Israels im Gazastreifen gerächt worden. Zudem wird der französische Staat aufgefordert, sein Verhalten Muslimen gegenüber zu überdenken.

Das US-Unternehmen Site, das auf die Auswertung islamistischer Websites spezialisiert ist, teilte mit, nur der Anschlag am 19. März, bei dem Merah drei Kinder und einen Lehrer tötete, werde erwähnt - nicht aber die Angriffe Merahs auf Soldaten. Unklar sei auch, ob der genannte "Jussuf, der Franzose" mit Merah identisch sei.

Radikalisierung begann laut Staatsanwaltschaft in Gefängnis

Nach Erkenntnissen der Staatsanwaltschaft filmte Merah alle Anschläge. Bei dem Attentat auf die Fallschirmjäger in Montauban sagte er demnach: "Wenn Du meine Brüder umbringst, bringe ich Dich um." Auf einem der Filme ist Merah zudem zu sehen, wie er ein kleines Mädchen am Haar packt, sie erschießt und dann auf einem Motorroller flieht.

Präsident Sarkozy kündigte ein schärferes Vorgehen gegen Internetseiten an, die Hass oder Terrorismus Vorschub leisten. Jeder, der gewohnheitsmäßig solche Seiten besuche, werde von nun an strafrechtlich belangt. Auch soll untersucht werden, ob in französischen Gefängnissen extremistisches Gedankengut verbreitet wird.

In Frankreich hat zudem der Versuch begonnen, Merahs Radikalisierung nachzuzeichnen. Die Entwicklung vollzog sich offenbar über längere Zeit. Sie habe im Gefängnis begonnen, sagt Staatsanwalt Molins. Dort habe der Attentäter begonnen, eifriger den Koran zu lesen. Dies solle aber nicht heißen, dass der junge Mann ausschließlich wegen seiner Gefängnisstrafen zum gewaltbereiten Islamisten geworden sei.

"Mohammed Merah, der Mann mit den tausend Gesichtern"

Merah war schon als Minderjähriger mehrfach wegen kleinerer Delikte aufgefallen, darunter Steinwürfe auf einen Bus und Diebstähle. Wegen eines Handtaschenraubs musste er später 21 Monate ins Gefängnis, die Strafe saß er zwischen Dezember 2007 und September 2009 ab. In dieser Zeit widmete er sich dem Koran-Studium. Zuletzt wurde er Ende Februar erneut zu einem Monat Gefängnisstrafe verurteilt.

Französische Medien zeichnen dennoch das Bild einer vielschichtigen Persönlichkeit. "Mohammed Merah, der Mannn mit den tausend Gesichtern", schrieb "Le Monde". Mehrere Zeitungen berichteten von einem höflichen und fröhlichen jungen Mann, gleichzeitig aber auch von seiner aggressiven Ader und gewalttätigen Tendenzen.

Der "Figaro" zitierte einen früheren Betreuer Merahs vom Jugendschutz: "Als ich Mohammed kennenlernte, hatte er noch ein Herz." Laut "Le Parisien" begann Merah nach Aufenthalten in Pakistan und Afghanistan, jüngere Menschen in seiner Umgebung mit extremistischem Gedankengut zu indoktrinieren.

Deswegen erstattete eine Frau aus Toulouse nach Angaben ihres Anwalts schon vor knapp zwei Jahren zweimal Anzeige Merah. Er habe ihrem 15-jährigen Sohn Qaida- Videos mit "unerträglichen" Gewaltszenen gezeigt habe, sagte die Frau, die nicht genannt werden wollte, der Internetausgabe der Zeitung "Télégramme". Ihr Anwalt Eric Mouton bestätigte die Anzeige, die offenbar nicht weiterverfolgt wurde. Er habe nichts mehr davon gehört.

ulz/dapd/dpa/AFP/AP/Reuters
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