Thomas Fischer

Doping im Sport Entscheidend ist aufm Podium

Das Schönste am Sport ist das Dabeisein? In ausnahmslos allen Disziplinen des wirklichen Lebens versucht der Mensch, sich Vorteile gegenüber Konkurrenten zu verschaffen. Nur beim Sport sagt man das D-Wort.
Tour-de-France-Teilnehmer (Archivbild): Was nicht verboten ist, ist eben erlaubt

Tour-de-France-Teilnehmer (Archivbild): Was nicht verboten ist, ist eben erlaubt

Foto: Christophe Ena/ AP

Der Profi

Herr Bernal aus Kolumbien hat die Tour de France gewonnen. Man muss, um das zu schaffen, unter anderem an drei Tagen hintereinander Etappen zwischen 120 und 210 Kilometern und etwa 4000 bis 5500 Höhenmetern (davon ein Drittel oberhalb von 2000 Metern über NN) mit einem Geschwindigkeitsdurchschnitt von ungefähr 38 km/h fahren. So etwas hat der Kolumbianer in den Genen, wie der Kenianer eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 21 km/h auf 42 Kilometern zu Fuß. Kolumbianisches Blut enthält nämlich mehr rote Blutkörperchen als, sagen wir, US-amerikanisches oder deutsches. Das kommt von der dünnen Luft in der Höhe und hält ein ganzes Radsportleben lang, auch wenn man in England oder Italien lebt. Unter einer VO2max von 90 ml/min geht da gar nichts.

Das soll jetzt aber wirklich nicht etwa ein dezenter Hinweis auf das schreckliche D-Wort sein, das ja im Radsport gar nicht mehr vorkommen kann, seit der betrügerische Hodenkrebsbezwinger Armstrong mit seiner unvergleichlich guten Technik des schnellen Tretens kleiner Gänge nicht mehr dabei ist. Wir hatten es immer schon gewusst, dass eigentlich unser Jan aus Merdingen mit der unvergleichlich guten Technik des langsamen Tretens von großen Gängen der legitime Erbe von Eugène Christophe war, dessen 106 Jahre alte Heldentat am Schmiedefeuer des Col du Tourmalet alljährlich so sicher in Deutschlands Feuilletons wiederkehrt wie der kleine Lord in die ARD.

Jetzt hatten wir, synchron mit zwei Welthitzerekorden im Rhein- und im Emsland, gleich mehrere Weltspitzenleistungen auf einmal live: Zwei kleine Kolumbianer auf Platz acht und Platz eins; den jüngsten Sieger aller Zeiten, was selbstverständlich nur als größtes Jahrhunderttalent des Jahrtausends geht; den besten deutschen Ravensburger nach Andreas Klöden aus der Lausitz. Und als Sahnehäubchen ein großes Weinen: Thibaut Pinot, schmerzverzerrt, tränenüberströmt: "Schon auf dem Rad begann er zu weinen" (ARD), "weint bittere Tränen" ("Kurier"), "bricht auf dem Rad in Tränen aus" (SPIEGEL), "ganz Frankreich weint" (Eurosport). Die "FAZ" druckte am 30. Juli ein Wortprotokoll der nächtlich weinenden Verzweiflung. Ecce homo!

"Wir sind keine Sportler, wir sind Profis", sagte einst Rudi Altig. Das war damals, vor der Erfindung des D-Worts, als man mit Rotwein und Ephedrin über die Berge rutschte und der Tour-Reporter sein Klagelied vom Leiden des Profimenschen vor Troja noch in Schwarz-Weiß sang. Und noch ein paar Jahre früher hätte sich Herr Pinot unterwegs ein wenig Morphium in den Oberschenkel gespritzt, gegen das Weinen ein Schlückchen aus dem Pervitinfläschchen gegönnt und die Kraft für die Attacke aus der Panzerschokolade gelutscht. Danach kamen Rolf Wolfshohl aus Köln und Didi Thurau aus Frankfurt, dann Jan Ullrich aus Merdingen und Andreas Klöden aus Forst. Zwischendurch wurde es richtig streng: Hennes Junkermann kriegte bei der Tour 1972 zehn Minuten Zeitstrafe für das Ephedrin in seinem Profiblut.

Heute wird Ephedrin nicht mehr benötigt, um die tragische Häufung von Asthmaerkrankungen unter Berufsradfahrern zu bekämpfen. Das Beste daran war sowieso das Desoxyephedrin, das man mit wenig Aufwand weiter und immer weiter entwickeln kann und das derzeit in der Ausbaustufe des Crystal Meth so manchen Sportler durch die Nacht des Hip-Hop bringt.

Das ist aus Sicht der sportproduzierenden Industrie natürlich etwas laienhaft beschrieben, aber für unsere Zwecke reicht es vermutlich. Tatsächlich haben sich unter dem segensreichen Regime des für seine Gewissenhaftigkeit berühmten Weltradsportverbands UCI und der tapferen Welt-Anti-D-Wort-Agentur Wada die Kunst der Masseure und der Ergometerbauer, die Sensibilität der Motivationstrainer und Depressionstherapeuten, die Fachkunde der Professoren für kurz-, mittel- und langfaserige Muskelkunde sowie überhaupt die Leistungsdiagnostik ins Unermessliche gesteigert, sodass man durch bloße Veränderung der Haferflockenmischung in jedem neuen Jahr genau dieselben Leistungen aus den Körpern generieren kann wie in den jeweils vergangenen Jahren aus den damals verbotenen D-Methoden. Alles in Ordnung, sagt der Kontrolleur: So was wie bei Festina, Astana, Telekom oder US Postal wäre heute gar nicht mehr möglich.

Das Dopinglied funktioniert, wie man weiß, nach immer demselben Schema und ist in seinem Verlauf daher ungefähr so überraschend wie der Wetterbericht übers Jahr. Diese Analogie gilt leider auch für die Niveauhöhe der Diskussion. Man kann die Texte der Schlagzeilen, "Hintergrund"-Berichte, Geständnisse, Stellungnahmen und Absichtserklärungen aus einem ziemlich übersichtlichen Baukasten zusammensetzen: Der gute Glaube kommt und geht wie Flut und Ebbe. In die immer wieder ehrliche Freude über die jeweils neuesten Heldentaten wird, von sogenannten Kritikern, begleitet von "Experten" und "Insidern", zunächst die finstere Saat des Zweifels gestreut, der - leider, leider - "immer mitfährt". Aber, liebe Zuschauer, wir wollen mal das Beste hoffen und uns die Freude am Sport nicht verderben lassen. Denn sonst könnte man am Ende ja gar nichts mehr glauben. Außerdem stehen zum Beispiel die gesunden Keton-Präparate ja gar nicht auf der "Dopingliste", und was nicht verboten ist, ist eben erlaubt, und Eigenblut kann man sowieso nur mit Glück nachweisen.

In therapeutischen Abständen folgt auf die Phase, in der unsere Moderatorenteams den jeweils jungen Ravensburger auf keinen Fall "überfordern" oder gar "hypen" wollen, aber pro Minute dreimal mitteilen, an wievielter Stelle der Herr Emanuel Buchmann gerade fährt, ein schrecklicher "Skandal", bei dem sich - wir hatten es geahnt, sind aber dennoch total überrascht - herausstellt, dass das organisierte Sportverbrechen sich einmal mehr in den Schlafkabinen der Abgemagerten und den Exzellenzabteilungen der Sportkliniken eingenistet hat. Verzweifelt beklagt dann die Presse den Verlust der Moral, dieweil die Millionen der sogenannten Fans einmal mehr zwischen den zwei Menschheitsfragen pendeln: Ist es noch egal oder schon scheißegal? Dies lässt am Horizont eine andere Frage aufscheinen: Ist möglicherweise die D-Frage nicht ein schwer vermeidbarer Ausrutscher, sondern ein notwendiger Teil der Freude am Leben?

Der Sportler

1972 schwamm Mark Spitz Weltrekord über 100 Meter Schmetterling in 54,27 Sekunden. 1984 schaffte das der deutsche Albatros in 53,08 Sekunden. Am 26. Juli 2019 benötigte Caeleb Dressel noch 49,50 Sekunden. Wer das nicht glaubt, ist selbst schuld. Er hat den Unterschied zwischen Sportlern und Profis nicht verstanden. Das führt uns zu der Frage, wie sich der Sportler zum Profi und der Mensch zum Sportler verhält. Bekanntlich kann der Mensch, wenn er lang genug übt, erstaunliche Leistungen vollbringen, die im Goldenen Buch der Geschichte getreulich verzeichnet werden: In einer Minute 52 hart gekochte Eier essen, ein aufrecht stehendes Streichholz 50 Meter weit auf der Nase balancieren oder eine Alkoholvergiftung von sieben Promille überleben. Dies ebenso wie das Zersägen von Baumstämmen, das Fressen von Regenwürmern oder das Luftanhalten unter Wasser gilt den meisten noch nicht wirklich als "Sport", kann aber unter günstigen Bedingungen dazu werden.

Daneben gibt es den sogenannten Hobbysport, also die Ertüchtigung von Körper und Seele durch eine Simulation körperlicher Arbeit, bei der das Ergebnis des Mühens möglichst vollständig durch die Anstrengung selbst ersetzt wird. Allen Bemühungen von Karikaturisten zum Trotz wird der sogenannte Hobbyradsportler niemals mithilfe eines Ergometers die hauseigene Stromversorgung unterstützen oder die Batterie seines Elektroautos aufladen, denn dies würde das schönste Hobby der Welt zur Arbeit machen und so zur Qual entwerten.

Antidopingrazzia "Operation Viribus": Schlag gegen das organisierte Verbrechen

Antidopingrazzia "Operation Viribus": Schlag gegen das organisierte Verbrechen

Foto: EUROPOL/HANDOUT/EPA-EFE/REX

Am 8. Juli fand die "Operation Viribus" statt. Bestimmt waren Sie, verehrte Leser, total froh darüber, dass in 33 Ländern mit allen vereinten Kräften ein Schlag gegen das organisierte Verbrechen geführt wurde, welcher - unnötig zu erwähnen - selbstverständlich "der größte Antidopingeinsatz in der Geschichte" war. Schon wieder Rekorde: In 33 Staaten wurden insgesamt "24 Tonnen Steroidpulver sichergestellt" und "234 Verdächtige festgenommen"; in Deutschland 463 "Verfahren eingeleitet". Nun ja; wenn man ein bisschen weiterliest, beginnt die Sache, etwas zu bröckeln. Bei den 24 Tonnen handelt es ich um vielleicht drei Prozent des (geschätzten) jährlichen Verbrauchs an anabolen Steroiden (also Testosteron-Derivaten), der im Übrigen "seit Jahren stark ansteigt", allerdings nicht im Profi- und dopingkontrollierten Geschäft, sondern im sogenannten Hobbysport. Was für das Simmertaler Grillrind gut ist, hilft auch dem Versicherungsvertreter und BWL-Studenten bei der Körperoptimierung, und für die Security-Branche liegt ein bisschen Nandrolon ja schon fast im Bereich der notwendigen Betriebsausgaben. Die 24 Tonnen Verlust wird die chemische Hobbyindustrie mit ein paar Sonderschichten schnell wieder aufgearbeitet haben.

Deshalb muss beim nächsten Mal auf den größten Schlag unbedingt der allergrößte folgen: "Wir stehen bereit, um diese Art von Rolle in einer jeglichen, andauernden Operation fortzusetzen. Dies ist ein gemeinsamer Kampf gegen Sportbetrug auf dem Kontinent", soll "Chefermittler" Younger von der Wada in einer Pressemitteilung verkündet haben, und auch das IOC zeigte sich sehr erfreut über "Viribus". Wobei man sich unter Umständen fragen könnte, was das IOC eigentlich mit dem Anabolika-Doping zu tun hat, seit selbst die Olympia-Gewichtheber aus den zentralasiatischen Staaten doch eher beim Professor in Freiburg als beim Veterinär des örtlichen Kälbermastbetriebs arbeiten lassen.

Da stellt sich also die Frage, was genau der "Sportbetrug auf dem Kontinent" denn nun eigentlich ist, der in Operationen gegen "Bodybuilder und Hobbysportler" so entschlossen bekämpft werden soll und dennoch von Jahr zu Jahr größer und größer wird. Im Strafgesetzbuch gibt es "Sportbetrug" seit Kurzem auch, aber das Wort meint da eigentlich nur den Wettbetrug und die Bestechung. Und im Arzneimittelgesetz geht's um alles Mögliche, aber nicht um Betrug.

Proben im Antidopinglabor des IOC

Proben im Antidopinglabor des IOC

Foto: Alex Livesey/ AFP

Nicht jeder, der die Schönheit seines Körpers mittels Eiweißpulver, Kohlenhydratmehl, überdosierten Vitaminpräparaten und ein wenig Testosteron aus der Ochsenmast aufarbeitet, möchte ja an den "Sport"-Wettbewerben dieser Disziplin teilnehmen oder Gouverneur von Kalifornien werden. Er "betrügt" daher niemanden. Und wenn er mit 40 einen zünftigen Leberkrebs kriegt, zahlt seine Krankenkasse genauso anstandslos die Transplantation wie bei jedem Säufer.

Das gilt übrigens für die feministische Seite der Körperoptimierung ganz genauso, obwohl es da erstaunlich geräuschlos zugeht und man nichts hört von "größten Schlägen" gegen das organisierte Verbrechen der Implantate-Industrie oder von Razzien in den Operationsfabriken für Gel- und Eigenfetthintern, Plastikbrüste oder Komplettmaskierungen, die ja allesamt gewiss genauso gefährlich und schädlich sind wie die Sixpack- und Trizepskonstruktionen bei den männlichen Sportskameraden. Denn man wird ja nicht ernsthaft behaupten wollen, beim 250-maligen Hochreißen einer 40-kg-Hantel mit dem alleinigen Ziel, nächste Woche 255 Wiederholungen zu schaffen, handle es sich um "Sport", beim Vorstülpen der Lippenschleimhaut unter gleichzeitigem Herausdrücken des mit fünf Kilogramm Bauchfett aufgespritzten Gesäßes und Entfernung eines Rippenpaars aber um "Schönheit".

Das Personal des "organisierten Verbrechens" besteht im D-Business, wenn man es etwas genauer anschaut, zwar jedenfalls zum Teil auch aus einschlägig unangenehmen Gestalten. Das ist aber hier wie anderswo nicht unbedingt die Ursache, sondern die Folge des Geschäftsmodells. Als man, vor 40 Jahren, Pseudoephedrin noch in beliebiger Menge rezeptfrei als "Schlankheitsmittel" kaufen konnte, war es kein bisschen weniger gefährlich als heute, wurde aber in Werbespots von weißbekittelten, grau melierten Herren als Quell unbeschwerter Lebensfreude gepriesen. Seit man es für den sechsfachen Preis aus "dem Ostblock" kaufen muss, arbeiten auch Menschen ohne Medizin- und Schauspielstudium in den Vertriebsorganisationen. Das ist nicht anders als beim Kokain. Und wenn nächste Woche Vitasprint, der schnelle Fitmacher "für mehr Stunden" Arbeit, oder Aspirin Komplex, das Wohlfühlpräparat aus dem Apothekenregal in Augenhöhe mit belebenden 30 mg Pseudoephedrinhydrochlorid pro Portion, verboten würden, gäbe es nächsten Monat ein "organisiertes Verbrechen" mehr, und die Polizeipräsidenten und Innenminister würden uns im Fernsehen die Eimer mit dem Teufelszeug zeigen, die sie höchstpersönlich in Altenheimen beschlagnahmt haben. Investigative Teams von Spürnasen würden der Spur der "Geldwäsche" folgen, bis sie sich, wie alle Spuren, an den Ufern des Rheins verliert….

Der Mensch

Man muss also gelegentlich die Frage stellen: Was soll's eigentlich? Welchen "Verbrechen" sind wir da auf der Spur? "Ich habe nie jemanden betrogen", sprach einst Jan Ullrich aus Merdingen, was vielleicht einer seiner analytischen Höhepunkte war. Der Bodybuilder unter synthetischen Testosteron-Derivaten betrügt auch niemanden, und meistens wird er auch nicht betrogen: Er kann halbwegs sicher sein, dass er ungefähr den Dreck verkauft kriegt, den er haben will. Der Rest ist jede Menge eigenverantwortliche Selbstschädigung und ein bisschen fahrlässige Körperverletzung. Die Verstöße gegen das Arzneimittelrecht, die Steuerhinterziehung und die "Geldwäsche" sind systemimmanente Selbstläufer: Business-Risiko halt.

Wir wollen heute nicht im Einzelnen die große Menschheitsfrage erörtern, ob der Staat dazu da ist, die Bürger mithilfe von Strafrecht und Gefängnissen vor der Selbstschädigung durch Nikotin, Alkohol, Cannabis und Opiaten zu schützen. Vieles spricht dagegen, und viel für die Annahme, dass die abstoßenden Erscheinungen des bandenmäßig organisierten Verbrechens, die wir mit Feuer, Schwert, Hunderttausenden von korrupten Beamten und Hunderten von Milliarden Dollar immerzu "bekämpfen", ohne diese vergebliche Mühe gar nicht existierten. Wir meinen, wenn wir "Drogenbanden" sagen, ja auch gar nicht die Hopfenbauern aus der lieblichen Hallertau und die Mohnbauern aus der Provinz Badachschan, sondern den schrecklichen Bergspezialisten Al Capone aus Kolumbien. In Deutschland wiederum, sagte Herr Mischa Kläber vom Deutschen Olympischen Sportbund dem DLF, gebe es "ein durch und durch medikamentenfreundliches Bewusstsein in der gesamten Gesellschaft".

Werfen wir also noch einen Blick auf den Menschen, der all dies weiß und wieder weiß und wieder vergisst. Er vergisst es nämlich nicht wirklich: Er tut nur so. Er ist, aufs Ganze gesehen, genauso schlau wie Europol und Zollfahndungsamt und Bundesgesundheitsminister zusammen. Anders wäre es schwer erklärbar, wie er mit der Fairness und dem Wettbewerb, dem Profi und dem Sportler umgeht. Eine beliebige Tour durch den Horizont der Produktwerbung zeigt uns, dass ein großer Teil der Substanzen, Hilfsmittel, Waren, für welche geworben wird, dem Konsumenten große, exklusive Vorteile im Wettbewerb des Lebens zu verschaffen versprechen: Schneller verstehen und reagieren, erfolgreicher planen, bessere Partner finden, mehr Geld verdienen, andere hinter sich lassen im Rennen um Macht, Sex, Geld - das ist, wenn man einmal die etwas vertrackteren Säuselsprüche der Fernreise-Entspanner, Seelenbeschwörer und Diplom-Achtsamen weglässt, in der wirklichen Welt Botschaft, Religion, Sinn und Hobby in einem. Ob man dann als "Sport" noch den Rasen mäht, japanische Kochmesser schärft, Hanteln hochhebt oder auf ein Super-Record-Tretlager von Campagnolo spart, ist egal. Man kann sich auch eine rote Kappe aufsetzen und als Lieblingssport "Ferrari" angeben.

In ausnahmslos allen Disziplinen des wirklichen Lebens versucht der Mensch, sich mithilfe von Produkten und Hilfsmitteln exklusive Vorteile gegenüber tatsächlichen oder eingebildeten Konkurrenten zu verschaffen. Er findet sich ausgesprochen bewundernswert, wenn ihm dies gelingt, und akzeptiert es zähneknirschend bei anderen. Warum, so ist zu fragen, sollte er ausgerechnet im Hochleistungssport, also dem Bereich, in dem es definitiv nur um eine isolierte, höchst spezialisierte Fähigkeit geht, die er selbst überdies weder besitzt noch jemals erreichen kann, eine komplett andere, gegenläufige Wettbewerbsmoral verfolgen?

Hier stoßen wir auf ein wichtiges Phänomen: Beim Schwergewichtsboxen wird jede erfolgreiche Finte bejubelt und jeder Psychotrick bewundert. Aber wenn einer ein Hufeisen im Handschuh trägt, tief schlägt oder für Geld umfällt, ist er für immer unten durch. Beißen geht bei Schwergewichtsboxern und uruguayischen Fußballspielern vielleicht gerade noch als Temperamentsausbruch durch; einem gegnerischen Stürmer einen Halswirbel brechen und zwei Zähne ausschlagen aber stellt auch große deutsche Torwartkarrieren ins Zwielicht. Dem einen Genie werden Gottes Hände verziehen, dem anderen die wehleidigen Schwalben nicht.

So ähnlich geht's im wahren Leben: Ein Installateur, der damit angibt, dass er einem dummen Bauherrn einen Fantasiepreis aufgeschwätzt hat, gilt als schlauer Bursche. Wer zu erzählen hat, dass er statt des abgerechneten teuren Materials minderwertige Fälschungen eingebaut hat, kann damit am Installateursstammtisch nicht punkten. "Schlitzohren" sind Vorbilder, Betrüger werden verachtet.

Es geht um ein großes Wort: Fairness. Ihre Grenzen sind über weite Strecken durchaus fließend, lösen sich aber nie ganz auf und schlagen an bestimmten, nicht immer vorhersehbaren Stellen heftig zu. In der rührend sinnarmen "Operation", 15 Millionen Bodybuilder vor dem hirnrissigen, aber eigenverantwortlich gewollten Selbstbetrug zu bewahren, indem die Lieferanten ihrer Drogen zum "organisierten Verbrechen" ernannt werden, spiegelt sich auch eine Simulation jener Sehnsucht nach Aufrichtigkeit und Fairness, die im wirklichen Leben so schrecklich ambivalent bleibt und den heldischen Symbolen mit umso entschiedenerer Hoffnung abverlangt wird.

Der sogenannte faire Kampf um das Abdrängen in der ersten Kurve nach dem Formel-1-Start ist ein Sinnbild, die Alpenetappe auch. Der Mensch und Sportler schaut ganz genau hin und zugleich entschieden weg; er weiß alles und will nichts wissen. Chronisten, Interpreten, Moderatoren, Kommentatoren mit wirklich oder gespielt schlichten Gemütern orchestrieren das Ganze mit dem Singsang von Schicksalshaftigkeit und Kampfmoral. Sein Klang transportiert die Wirklichkeit des Lebens in die Symbole. Wenn die ganze Welt aus Profis besteht, wird es für den Menschen eng. Am Anstieg zum Galibier, während ein weiteres Kirchlein aus dem Jahr 951 vorbeizieht, wird daher das ganze Paket der Wahrheit verhandelt, wie auch sonst: Dass alles genau so sein muss, weil es so ist; und dass alles anders sein könnte. Wo die Grenzen sind, was sie bedeuten, und wer sie macht.

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