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Medien in Mexiko: Bloggen unter Lebensgefahr

Drogenkrieg in Mexiko Bloggen unter Lebensgefahr

"Rattenjagd", so lautete der letzte Tweet einer Mexikanerin - eine Warnung vor den Drogenkartellen. "Wenn ihr seht, wohin sie laufen, verratet sie." Sie bezahlte mit ihrem Leben. Mutige Blogger bieten dem organisierten Verbrechen die Stirn. Und geraten in die Schusslinie.

Anfang Februar überschwemmten Tausende Fahndungsaufrufe die Straßen von Ciudad Victoria. Sie lagen auf Gehwegen, steckten hinter Windschutzscheiben und wirbelten durch die Parks der Hauptstadt des mexikanischen Bundesstaats Tamaulipas. Aber auf den Flugblättern suchte nicht der Staat einen Kriminellen, sondern Kriminelle einen mutigen Bürger.

Die Verfasser der anonym gehaltenen Pamphlete haben eine Belohnung von umgerechnet 35.000 Euro ausgesetzt für Hinweise zum Betreiber der Facebook-Seite und des Twitter-Accounts "Valor por Tamaulipas". Die Seite informiert seit rund einem Jahr über die Aktivitäten der Drogenkartelle. Sie weist auf Schießereien hin, berichtet über Entführungen und Überfälle.

"Valor por Tamaulipas" ist eine Art Risiko-Report-Netz, gesponnen von aufmerksamen Bürgern und Anwohnern. Für die Bevölkerung sind Soziale Medien oft die einzige Chance zu wissen, wo in Tamaulipas Gefahr droht.

Und sie ärgern die Mächtigen im Staat: das organisierte Verbrechen. Daran ließ der Fahndungsaufruf keinen Zweifel: "600.000 Pesos bieten wir demjenigen, der genaue Hinweise zum Betreiber der Seite 'Valor por Tamaulipas' liefert. Oder zu seinen Verwandten, Eltern, Geschwistern, Kindern oder Frau", steht auf dem Pamphlet. "Wir bieten gutes Geld, um den Idioten das Maul zu stopfen, die glauben, Helden zu sein". Die Kopfgeldjäger sichern dem möglichen Informanten Anonymität und eine sichere Geldübergabe zu. Am Ende steht in fetten roten Lettern eine Telefonnummer.

Zwar ist unklar, ob jemand der Aufforderung der Mafia entsprochen hat, aber der Betreiber von "Valor por Tamaulipas" lebt seither in Todesangst, wie er SPIEGEL ONLINE berichtet. Seine Familie hat er inzwischen in die nahen USA gebracht.

Wer schreibt, bringt sich in Lebensgefahr. Dies gilt schon lange für Mexikos Journalisten. Aber die neuen Drohungen beweisen, dass sich die Mafia auch von den Sozialen Netzwerken nicht beobachten lassen wollen.

In Tamaulipas, dem Staat an der mexikanischen Golfküste, ringt die Zeta-Bande mit dem Golf-Kartell seit Jahren um die Vorherrschaft. Die Hauptstadt Ciudad Victoria ist in der Hand der Zetas. Andere wichtige Städte wie Tampico, Reynosa und Matamoros sind Territorium des Golf-Kartells. Der Terror unterscheidet sich für die Bevölkerung nur in Nuancen.

Die Kartelle kontrollieren nicht nur die Routen und Reviere fürs Rauschgift, sondern auch Nachtclubs, Discotheken und die Musik- und Filmpiraterie, sie zapfen in großem Stil Benzinleitungen und Ölpipelines an und überwachen selbst den Verkauf von Tortillas und Hühnchen. Sie erpressen Schutzgeld und rekrutieren Pistoleros. Wer sich weigert, dem wird das Haus angezündet, der wird ermordet oder entführt.

Nach Angaben der Staatsanwaltschaft sind von den 1200 im vergangenen Jahr als vermisst gemeldeten Menschen 400 in Tamaulipas verschwunden. Hier habe der Staat die Macht längst an das organisierte Verbrechen abgegeben, sagt der Kriminalitätsexperte Edgardo Buscaglia. "Für die Bewohner ist es ein gescheiterter Staat, weil die Regierenden die Sicherheit der Menschen nicht garantieren können", betont der Leiter des "Instituts für Bürgeraktion".

Entführungen und Einschüchterungen sind an der Tagesordnung

Über all das berichten die Medien schon lange nicht mehr. Mexiko ist seit vielen Jahren eines der gefährlichsten Länder für Medienschaffende. Nach Angaben der Journalistenschutzorganisation "Articulo19" sind in den vergangenen zwölf Jahren 72 Medienschaffende getötet worden, 13 gelten als vermisst.

Die Drogenmafia hat Reporter mit Kalaschnikow-Salven, Bomben und Drohungen zum Schweigen gebracht. Berichtet wird nur noch, wenn die Kartelle es autorisieren.

Das Informationsvakuum füllen Aktivisten wie "Valor por Tamaulipas". Rund ein Dutzend solcher Facebook-Seiten, Twitterer und Blogger gebe es mittlerweile im Norden Mexikos, sagt Ricardo González von "Artículo19". Er nennt deren Hinweise lebensnotwendig, betont aber zugleich die Gefahr für die Blogger: "Die Mafia hat eine neue Front gegen sie aufgemacht, nachdem sie die traditionellen Medien zum Schweigen gebracht haben".

Die Risiko-Report-Netze haben sich den Hass der Kartelle zugezogen

Es sind Nachrichten wie diese, die den Kartellen nicht gefallen: "Achtung in Xicotencátl - nachts immer Überfälle, schwarzer Pick-up, vier bewaffnete Männer" oder "Straße Méndez nach China, Nuevo León, immer wieder Berichte über Entführungen, unfassbare Lösegeldforderungen. Bitte extrem vorsichtig sein".

"Valor por Tamaulipas"  und @ValorTamaulipas  sind die meistgefolgten dieser Risiko-Report-Netze und haben sich vermutlich deshalb den Hass der Kartelle zugezogen. Tausende Bürger nutzen die Plattform, um über verdächtige Aktivitäten oder mögliche gefährliche Ecken zu berichten und sich selbst zu informieren.

Seit das Kopfgeld auf ihn ausgesetzt ist, weiß der Betreiber von "Valor por Tamaulipas", dass er seinen Mut möglicherweise mit dem Tod bezahlen wird. Dabei hat er wie all seine couragierten Kollegen den Fall von NenaDLaredo im Kopf. Die 39-jährige Bloggerin und Journalistin wurde im September 2011 vermutlich von den Zetas ermordet. Ihre Mörder legten sie halbnackt und enthauptet am Kolumbus-Denkmal in Nuevo Laredo ab.

Neben der Leiche deponierten sie einige Computertastaturen. NenaDLaredo hieß mit Klarnamen María Elizabeth Macías und war Redaktionsleiterin der Tageszeitung "Primera hora". Ihr letzter Tweet lautete: "Caceria d ratzzz si ven a donde korren esos DENUNCIENLOS xfa!!" "Rattenjagd. Wenn ihr seht, wohin sie laufen, VERRATET sie bitte." Das war ihren Mördern dann wohl zu viel.

NenaDLaredo hat keinen würdigen Abschied bekommen. Weder ihre eigene Zeitung noch die Blätter der Region veröffentlichten die Nachricht ihres Todes. Sie machten genau das, was die mutmaßlichen Mörder erreichen wollten: Sie schwiegen.

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