Aussteiger bei den Rechtsextremen "Hass ohne Ende, Angst ohne Ende"

Neonazis: Viele kommen in jungen Jahren in die Szene, der Ausstieg ist schwer
Foto: Bernd Settnik/ dpaMartin* ist rasend vor Wut, als er die Wohnungstür eintritt. Drinnen wartet ein Mann. Mit mehreren Komplizen packt Martin ihn, drischt auf ihn ein und tritt zu. Immer wieder. Gnadenlos. Viele Jahre lang waren sie befreundet, doch das zählt nicht mehr. Martins Kumpel will kein Neonazi mehr sein. Er will aussteigen. "Ich wollte ihn an der Wäscheleine aufhängen", sagt Martin. Nur mit Mühe und Not hätten ihn seine Schlägerkumpanen davon abhalten können.
Die Attacke ist mehr als sechs Jahre her. Doch sie lässt den jungen Mann nicht mehr los. Martin sitzt leicht vorgebeugt. Sein Blick richtet sich starr auf seine Hände, die Stimme ist fest.
Martin, Mitte zwanzig, kahlgeschorener Kopf, mittelgroß, ist seit sechs Monaten selbst Aussteiger. Er weiß, was ihm droht: "Ich denke, dass mein Bekannter jetzt ein Pflegefall ist", sagt er.
16 Jahre war er Teil der rechtsextremen Szene in Sachsen. Gewalt bestimmte sein Leben. Er habe Dönerbuden angezündet oder Kinderschänder verprügelt, sagt er. Einmal habe ihm ein Drogenhändler auf der Straße Koks angeboten. Ohne Vorwarnung habe er ihn gepackt, zu Boden geschlagen, auf den Kehlkopf getreten und ihn gezwungen, den Stoff zu essen. "Am Ende hat der nur Blut und Schaum gesabbert", sagt Martin.
Martins Aufgabe: Nachwuchs rekrutieren
Die Gewaltszenen verfolgen Martin. Er hat Schlafstörungen und Depressionen. "Wenn Sie einmal gehört haben, wie ein Genick bricht, dann werden sie das nicht mehr los." Dieses Knacken. Das sei wie bei einem Finger. Nur viel lauter. "Das brennt sich in den Schädel ein, für immer."
Viele Jahre seines Lebens glaubte er an die Allmachtsphantasien und die Propaganda der Szene. Martin war ein Mitläufer, hatte nie eine Führungsposition, allerdings eine wichtige Aufgabe: Nachwuchs zu rekrutieren. Doch nach vielen Jahren kamen die Zweifel. "Ich habe erst versucht, mich mit unseren Taten auseinanderzusetzen und sie hinterfragt. Ich habe versucht, Kameraden zu sensibilisieren, dass man auch sein ganzes Leben versauen kann. Dann wurde ich von älteren Kameraden angefeindet. Irgendwann habe ich mich angeekelt gefühlt." Martin würde nun gern den Ballast abwerfen, die Vergangenheit loswerden. Doch das ist nicht so einfach.
"Die Szene aus der er kommt, ist schon heftig", sagt Michael Ankele. Der Sozialarbeiter ist ein gemütlicher Typ, er spricht ruhig und lacht oft. Seit zwölf Jahren bietet er ehrenamtlich mit seinem Aussteigerprogramm "ad acta" Neonazis eine Chance auf einen Neuanfang. Mehr als 80 Rechtsextreme hat er in den vergangenen Jahren betreut. Nicht alle haben es geschafft, einige wurden wieder rückfällig. Auch bei Martin, sein neuester Fall, ist das nicht ausgeschlossen.

"Die Deutschen sind zu ängstlich"
Michael Ankele spricht im Interview über die Ignoranz der Deutschen, den NSU und die wichtige Rolle von Dönerverkäufern im Kampf gegen Rechts.
Er komme aus einer Gruppe, deren Mitglieder sich nicht nur als Schläger verstehen, sondern vor allem als Ideologen. Das seien echte Überzeugungstäter, sagt Ankele. Doch wie wird man ein Überzeugungstäter?
"Unbeschreibliches Wir-Gefühl"
Martin ist neun Jahre alt, als er in die Szene rutscht. Im Unterschied zu seinen Freunden fällt ihm Lesen und Schreiben sehr schwer. Seine Eltern können sich um den Jungen nicht kümmern. Sie arbeiten im Schichtsystem. Meistens sind sie nicht zu Hause, und wenn doch, sind sie müde. Statt mit den eigenen Eltern übt Martin mit einem Bruder seines Klassenkameraden. Der 16-Jährige zeigt erstaunlich viel Einsatz. Nachmittags, wenn die Eltern schlafen, setzt sich der Teenager mit Martin hin und lässt ihn aus einem Buch vorlesen. Es handelt von der deutschen Wehrmacht.
"Damals habe ich nicht mitbekommen, dass ich gesteuert werde. Ich habe es auf mich einrieseln lassen", sagt Martin. Das Buch ist der Einstieg in den Rechtsextremismus. Martin liest immer mehr einschlägige Literatur, der Bruder seines besten Freundes weicht ihm nicht mehr von der Seite, er rutscht immer tiefer in die Szene. Neben der Hausaufgabenbetreuung gibt es Fußballturniere. Die Jungs angeln, bauen Gartenlauben, feiern und jagen. Mit echten Waffen, in Tschechien. Dort lernt Martin den Umgang mit Gewehren, Pistolen und Handgranaten. "Ich war 14 Jahre alt, als ich das erste Mal eine MG in den Pfoten hielt", sagt er.
Dem Teenager gefällt das. "Dieses Wir-Gefühl ist unbeschreiblich. Das kannte ich von zu Hause nicht", sagt er. Martin hat nun eine zweite Familie, wird ernst genommen, hat eine Beschäftigung in der Freizeit. Für Spaß und Abenteuer nimmt er ohne zu murren die Pflichten in Kauf. Regelmäßig hört er nach der Schule Vorträge von älteren Kameraden über Geschichte, Politik, Deutsch und Gemeinschaftskunde. "Die haben uns von Anfang an geschult, ganz bewusst", sagt Martin.
Und seine Eltern? Die dachten bis zu seinem 16. Lebensjahr, dass ihr Sohn lediglich einem Hobby nachginge. "Dass es mein ganzes Leben bestimmt hat, haben die nicht mitbekommen."
"Der NS ist zu allem fähig"
Die Kameradschaft bedeutet für Martin Spaß. Doch der schlägt mit den Jahren mehr und mehr in Gewalt um. Erst mit Mitte zwanzig realisiert er, was Rechtsextremismus bedeutet - für die Gesellschaft, aber auch für ihn persönlich: "Gewalt ohne Ende, Wut ohne Ende, Hass ohne Ende, Trauer ohne Ende, Angst ohne Ende", sagt er, starrt wieder vor sich hin und sagt dann mit leiser Stimme: "Der NS ist zu allem fähig."
Lange ringt er mit sich, schiebt den Ausstieg vor sich her, bis ihm eine Freundin eine simple Frage stellt: Was hast du davon, in der rechten Szene zu sein? Die Frage hatte ihm zuvor noch niemand gestellt. "Ich habe keine Antwort darauf gehabt", sagt Martin. Ihm sei plötzlich klargeworden, dass es ihm außer Hass und Gewalt nicht viel eingebracht habe.
Über einen Freund lernt Martin den Sozialarbeiter Ankele kennen. An einem neutralen Ort findet ein erstes Treffen statt, Martin hat seinen Vater mitgebracht. Beide hätten abgekämpft ausgesehen, erinnert sich Ankele. Das erste Gespräch dauerte eineinhalb Stunden. Danach packt Martins Oma die NS-Devotionalien ihres Enkels zusammen, weil er es selbst nicht konnte. Martin geht auf ein Feld und verbrennt alles.
Nach seinem Ausstieg erscheint ein Text über ihn auf einer rechten Internetplattform, er endet mit den Worten "...vergessen werden wir DICH sicher nicht".
* Name von der Redaktion geändert