Thomas Fischer

Lübcke-Verfahren Eine sinnlose, erschreckende Tat

Thomas Fischer
Ein Kommentar von Thomas Fischer
Im Verfahren wegen des Mordes an Walter Lübcke ist das Urteil des Tatgerichts verkündet worden. Gibt es Neues? Eine erste Annäherung.
Stephan Ernst, wegen Mordes an Walter Lübcke zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt

Stephan Ernst, wegen Mordes an Walter Lübcke zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt

Foto: Kai Pfaffenbach / dpa

Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main hat den Angeklagten Stephan Ernst am 28. Januar 2021 wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Außerdem hat das Gericht den Vorbehalt der Anordnung von Sicherungsverwahrung ausgesprochen. Nähere Analysen sind vor Kenntnis der schriftlichen Urteilsgründe nicht möglich. Ein paar erste Anmerkungen kann man formulieren.

Wer die Nachricht von dem Urteil kurz nach der mündlichen Verkündung las oder hörte und überrascht war, kann kein Kunde des Deutschlandfunks sein. Denn dieser hatte am 25. Januar, also drei Tage zuvor, in einer Bildunterzeile auf seiner Website geschrieben: »Im Prozess um die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten und CDU-Politikers Walter Lübcke ist ein Urteil gesprochen worden.« Auch den Urteilsinhalt kannte der DLF bereits: »Mittäter und Mitwisser blieben ungeklärt«, und: »Viele Fragen blieben offen. Sie muss jetzt die Politik klären.« Dafür erfuhren wir aber bereits das Tatmotiv, die Beweislage bezüglich des weiteren dem Angeklagten Ernst vorgeworfenen Tötungsdelikts sowie das Ergebnis hinsichtlich des wegen Beteiligung angeklagten Mitangeklagten H.

Alles klar also, schon drei Tage vor Urteilsverkündung! Der DLF, Mutter des Qualitätsjournalismus, hat damit selbst »Bild« überholt. Man muss allerdings sagen, dass der Sender sich damit durchaus in den Sound der Verhandlung einpasste. Diese hatte ja, wie man sich erinnert, mit der bemerkenswerten Aufforderung »Hören Sie nicht auf Ihre Anwälte, hören Sie auf mich!« des Vorsitzenden an die beiden Angeklagten begonnen. Er hatte auch gleich erläutert, wie er sich das vorstellte, wenn man auf ihn hört: »Ein freimütiges Geständnis wirkt sich immer günstig aus.«

Der Scherz mit dem günstigen Ausgang

Zumindest einer konnte also bei der Urteilsverkündung rundum mit sich zufrieden sein: »Ich habe gesagt: Ein Geständnis wirkt sich perspektivisch immer zugunsten des Angeklagten aus«, sprach der Vorsitzende (nach Meldung der »SZ«) bei der »mündlichen Mitteilung des wesentlichen Inhalts der Urteilsgründe«, wie es in der Strafprozessordnung heißt (Paragraf 268 Absatz 1 Satz 2). Nun könnte man es gewiss für einen ziemlich misslungenen Scherz halten, die Verhängung von lebenslanger Freiheitsstrafe bei gleichzeitiger Feststellung »besonders schwerer Schuld« für einen »günstigen« Ausgang zu halten.

Dieser Eindruck könnte sich sogar noch verstärken, wenn man bedenkt, dass die Reststrafenaussetzung zur Bewährung bei lebenslanger (!) Freiheitsstrafe praktisch genau dieselbe Prognose zukünftiger Rechtstreue voraussetzt wie die Nichtanordnung oder Aussetzung der Sicherungsverwahrung. Die mögliche (!) »Günstigkeit« für den Angeklagten liegt also irgendwo in einer unabsehbaren (!) Zukunft bei einer wissenschaftlichen Feinabstimmung zwischen zwei »Prognose«-Begriffen (!). Dies noch eine »Gunst« zu nennen bedarf schon einer gesunden Portion Optimismus (beim Angeklagten) und Selbstgewissheit (beim Richter). Da aber jedenfalls das Letztere außer Frage steht, kann man sicher sein, dass der Scherz mit dem günstigen Ausgang nicht witzig gemeint war. Allenfalls »Bild« könnte der »Günstigkeits«-Theorie zustimmen; dort war in freudiger Erwartung berichtet worden: »Staatsanwalt will Lübcke-Killer für immer wegsperren« (22. Dezember 2020).

Jedenfalls dürfte die zitierte goldene Regel des Vorsitzenden über die Wirkung von Geständnissen (jeder Art) auch gegen den Rat der Verteidiger den meisten Strafverteidigern vermutlich keinen Anlass geben, sie an ihre Mandanten weiterzureichen.

Hoffentlich kein mehrbändiges Urteil

Über die Geständnisse des Angeklagten Ernst ist hinreichend berichtet worden. Es ist hier gewiss nicht der Ort, in das allgemeine Beweiswürdigen und Besserwissen einzustimmen, das seit Monaten in der und für die interessierte Öffentlichkeit aufgeführt wird. Der Strafsenat hat alle Geständnisse, Widerrufe, Abänderungen und Einschränkungen gehört und gewogen und ist zu einem Ergebnis gekommen, wie es seine Aufgabe war. Die Erwägungen, die die fünf Richter zu ihrer Entscheidung bestimmten, wird man in den schriftlichen Urteilsgründen nachzulesen haben. Man kann nur hoffen, dass sie nicht den Versuch unternehmen, als weiteres Beispiel für die Kraft der Gerichte zur zeitgeschichtlichen Forschung in die Geschichte einzugehen, will sagen: Man muss nicht über jeden Mord 800 Seiten Urteilsgründe schreiben, nur weil die Hauptverhandlung lang war. Die Frankfurter Richter sind aber erfahrungsgemäß nicht so anfällig für die Freude an mehrbändigen Urteilswerken wie Gerichte aus manchen anderen Bezirken.

»Der erste rechtsradikal motivierte politische Mord an einem Politiker seit Walther Rathenau« – dies war einer der Lieblings-Slogans einer der historischen Betrachtung zugewandten Presse in den Monaten des »Lübcke-Verfahrens«. Was dieser Versuch einer Sensationalisierung eigentlich ausdrücken oder bewirken sollte, blieb im Dunkeln. Soll das eine Art von schaurigem »Rekord« aufzeigen, eine kriminelle Höchstleistung, eine sensationelle Neuheit? Wir haben in der Vergangenheit einen ersten politisch motivierten Mord an einem Generalbundesanwalt, einen ersten Mord an einem BDI-Präsidenten, einen ersten rechtsradikalen Sprengstoffanschlag auf ein Oktoberfest, eine erste rechtsradikale Mordserie an Immigranten, einen ersten islamistischen Massenmord in Berlin und vieles andere erlebt. Was soll die Herausstellung eines Merkmals des Opfers, um die Tat nicht als zweite oder wiederholte, sondern als »erste« einer imaginären Serie darstellen zu können? Es ist eine eher abstoßende Methode der Aufwertung von Nachrichten, aus dem fiktiven Einstellen eines schlimmen Ereignisses in eine angebliche Reihe einen zusätzlichen Sensations- und Gruseleffekt zu generieren: »Erste Tote«, »erste Unruhen«, »erste Plünderungen«…

Wie das verwertet wird und dass die Betonung des Zeitabstands zum Mord an Rathenau im Jahr 1922 (auch) eine etwas andere Nuance anschlägt, ist klar: Der Mord an Walter Lübcke wird vielfach als »Zeichen« und Menetekel, als äußerer Ausdruck und Höhepunkt einer rechtsextremen Radikalisierung und Gewaltbereitschaft beschrieben, die »nun erstmals« wieder wie in der Weimarer Republik zum Mittel des politischen Mordes greife. Ob diese Schlussfolgerung so stimmt, scheint mir nicht sicher, und die dahinterstehenden Analogien erscheinen mit vorschnell, alarmistisch einerseits und verharmlosend andererseits.

Ein Fanatiker und dummes, armes Würstchen

Waren fanatische Rechtsradikale zwischen 1949 und 2019 friedlicher? Und sind sie heute eher der Ansicht als in den Sechzigern oder den Neunzigern, »Fische im Wasser« eines angeblichen Volkszorns gegen die üblichen Objekte ihrer Vernichtungsfantasien zu sein? Muss, soll, kann der Mord von Kassel die Deutschen mehr aufrütteln als das offene Auftreten der »Wehrsportgruppe Hoffmann«, die »Hetzjagd von Guben« oder die Brände von Lichtenhagen? Ich weiß es nicht. Man sollte Menschen wie dem Angeklagten Ernst nicht den Eindruck vermitteln, sie stünden in einer historisch bedeutsamen Reihe und an der Spitze einer Bewegung, deren mörderische Manifestationen sich über ein Jahrhundert erstrecken. Der wegen Mordes verurteilte Angeklagte Ernst ist, nach allem, was man als Zeitungsleser weiß, nicht nur ein gewaltbesessener Fanatiker, sondern auch ein eher dummes, armes Würstchen, wie fast alle Menschen mit ähnlich verkrüppeltem Weltbild und Motivationsapparat. Ihm eine Rolle als Figur der politischen Zeitgeschichte zuzuschreiben, wäre zu viel der Ehre für ihn und seine Gesinnungsgenossen.

Der Rest des Urteilsspruchs ist, wie er ist: Auch dazu konnte man schon tage- und wochenlang das Wesentliche lesen. Die Form der Vernehmung des Opfers des dem Angeklagten vorgeworfenen zweiten Tötungsdelikts durch den Vorsitzenden des Senats und die Verteidiger des Angeklagten mag, wenn man den Berichten folgt, weniger Zufall als vorweggenommenes Ergebnis gewesen sein. Und die bemerkenswerte Figur des Mitangeklagten Markus H., der sich aus dem Gestrüpp der Ernst'schen Geständnisse auf wunderbare Weise in die Freiheit rettete, wird noch nachwirken. »Kein objektives Beweisergebnis« sprach, so wusste es die Mehrzahl der »Prozessbeobachter« schon seit Längerem, für seine Tatbeteiligung. Nun ja, wir werden sehen, was das OLG dazu schreibt.

In Erinnerung bleiben wird die Hauptverhandlung nicht zuletzt wegen des sehr bedenklichen Umgangs des Gerichts mit einem zwischenzeitlich ausgeschiedenen unliebsamen Strafverteidiger, dem der Angeklagte, angespornt vom Vorsitzenden und seinem zweiten Strafverteidiger, auf überaus seltsame Weise das »Vertrauen« entzog, nachdem ihm der Senatsvorsitzende zu verstehen gegeben hatte, dieser Verteidiger werde ihm »schaden«. Der Vertrauensentzug wurde darauf gestützt, dass der Rechtsanwalt nach Ansicht des Vorsitzenden »nicht sachgerecht« verteidigte – eine Beurteilung, die dem Gericht allenfalls in extremen Ausnahmefällen zusteht und keinesfalls darauf gestützt werden kann, dass ein Verteidiger Beweisanträge stellt, die »daneben« liegen. Mit dieser Begründung könnte man in zahllosen Verfahren wegen politisch motivierten Taten die jeweiligen Verteidiger hinausschießen. Wie auch immer: Nachdem sich alle einig waren, wird niemand das mit einem Rechtsmittel rügen. Und die Frage, wie, wann und bei wem sich der Senat um einen Ersatz für den vielleicht (!) zu entlassenden Verteidiger bemühte, wird sicher auch nicht zu den »offenen« gezählt werden, die nach Prozessende angeblich noch zu klären sind. Sagen wir vorsichtig: Ein Highlight der Verfahrenskunst war das nicht.

Hinterbliebene müssen keine »Leistung« vollbringen

Bemerkenswert war im Übrigen auch die Berichterstattung über die Rolle der Nebenkläger, also der Familie des Tatopfers. Fast kein Bericht, in dem nicht hervorgehoben wurde, dass sie »an fast jedem Verhandlungstag anwesend« waren, und in dem nicht gelobt wurde, dass sie sich »der Konfrontation mit dem Angeklagten aussetzten«. Auch hier schwingt eine seltsame Stimmung mit, die als Mitgefühl und Solidarität zu beschreiben schwerfällt. Hinterbliebene eines Mordopfers müssen keine »Leistung« vollbringen, für die sie von der Presse zu loben sind oder nicht. Es ist, allgemein, weder gut noch schlecht, weder Verdienst noch Zumutung, »sich der Hauptverhandlung auszusetzen«, wenn man Nebenkläger ist. Für manche Betroffene mag es eine Qual sein, für andere eine Erleichterung, für wieder andere der Versuch, das eigene Erleben und das furchtbare Geschehen in einen äußeren und inneren Sinnzusammenhang zu bringen, der das Verstehen, Bewältigen und Weiterleben ermöglicht.

Das »Aufarbeiten« geht nun seinen politischen Gang; es kann einem im Wahljahr Übles schwanen. Angeblich sind ja »viele Fragen offengeblieben«, da sind sich der Deutschlandfunk und der Vorsitzende der hessischen AfD einig, der im Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags »die Versäumnisse der Sicherheitsbehörden« aufarbeiten möchte. Darauf, auf die Beiträge der genannten Partei zum Aufklärungsprozess sowie auf den Abschlussbericht des Ausschusses samt den Minderheitsvoten freuen wir uns schon.

Der AfD-Vorsitzende hat übrigens der Presse mitgeteilt, jedes geringere Strafmaß gegen den Angeklagten Ernst wäre »der Bedeutung des Mordes (an Walter Lübcke) nicht gerecht geworden«; es sei »ein wichtiges Zeichen gegen Extremismus«. Ganz toll! Gewiss werden die Vorsitzenden der nachbarlich verbundenen AfD-Landesverbände Hessen und Thüringen schon heute zu einer maskengeschützten Kundgebung gegen rechtsextreme Gewalt aufrufen. Die sieht man dann die blauen Fahnen im Wind des Rechtsstaats flattern.

Wie geht es weiter? Die zu Rechtsmitteln berechtigten Verfahrensbeteiligten werden überlegen, ob sie Revision gegen das Urteil einlegen; dafür besteht eine Frist von einer Woche. Dann wartet man auf die schriftlichen Urteilsgründe; anschließend bleibt ein Monat Zeit, die Revision zu begründen. Eine neue Beweisaufnahme gibt es im Revisionsverfahren nicht; die Öffentlichkeit wird zumindest vorläufig mit den »offenen Fragen« leben müssen. Ein guter Ansatz zur Steuerung der Neugierde wäre, wenn die Bürger, jeder für sich, einmal überlegen würden, welches denn eigentlich jene »offenen Fragen« sind, die es nun zu klären gilt.

Ein Minimum an Respekt

Dass die Spannung der Bevölkerung darauf, was der Untersuchungsausschuss des Landtags an Wahlkampfmunition auffahren und einbringen wird, besonders groß sei, wird man nicht annehmen müssen. Auch die Rätsel im Ablauf des abgeurteilten Mordes werden, sobald die Nachrichtenlage weitergezogen ist, zu Recht und rasch an Interesse verlieren. Bleibt die Frage, ob es andere Rätsel und Fragen gibt, die näher an den Bürgern selbst liegen. Sie betreffen nicht allein die verdrehten, fremdenfeindlichen Abgründe in der Gedankenwelt der Angeklagten von Frankfurt. Sondern, wie eigentlich jeder weiß, die Notwendigkeit eines Minimums an mitmenschlichem und mitbürgerlichem Respekt im Allgemeinen.

Die Entgrenzung, Hemmungslosigkeit und Freude an der fantasierten oder realen Gewalt, die aus abseitigen Gründen geschürt wird und als Spiegel der gesellschaftlichen Verunsicherung viele Bereiche erfasst, fängt im relativ Kleinen an, hat aber auf Dauer und in der Breite verheerende Wirkungen. Das sollte den Blick nicht nur auf das Statuieren von »Exempeln« richten, sondern auch allgemein auf die Suche nach »Sündenböcken«, nach hysterischer Dramatisierung alles Negativen und auf das Gift einer heimlichen Freude am Niedergang.

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