
Flüchtiger Drogenboss "El Chapos" mächtiges Helfernetz
Vier Wochen ist es her, dass Joaquín Guzmán aus dem Hochsicherheitsgefängnis El Altiplano geflohen ist - doch von "El Chapo", wie der meistgesuchte Verbrecher des Landes genannt wird, fehlt trotz einer gigantischen Suchaktion jede Spur. Dafür kommen immer mehr Details über das große Netzwerk an Strohfirmen und Helfern ans Licht, die Guzmán vor und nach seiner Flucht zur Seite standen.
Am 11. Juli war "El Chapo" durch einen 1,5 Kilometer langen Tunnel geflohen. Ende Juli stellte die Regierung von Präsident Enrique Peña Nieto medienwirksam einen internationalen Suchtrupp zusammen, mit Experten aus den USA, Kolumbien und Guatemala sowie Fahndern von Interpol, Europol und der amerikaweiten Polizei Ameripol. Die Sondereinheit ist dem "Bloque de busqueda" (Suchblock) nachempfunden, der vor knapp 22 Jahren den damaligen Chef des Medellín-Kartells, Pablo Escobar, zur Strecke gebracht hat.
Selbst Ermittler von damals, wie der 73-jährige frühere kolumbianische Polizeichef Rosso José Serrano, wurden reaktiviert. Doch nach den ersten Treffen in Mexiko brachte Serrano ganz undiplomatisch das Problem bei der Suche nach Guzmán auf den Punkt: "Mit korrupten Polizisten ist es sehr schwer, einen Narco zu verfolgen".
Narco - so bezeichnet man in Mexiko die Mitglieder der mächtigen Drogenkartelle. Und der größte Narco-Boss der Gegenwart hält sich nach Einschätzung der US-Drogenfahndungsbehörde DEA dort versteckt, wo er herkommt: In der Sierra von Sinaloa. "Wo ist Guzmán am sichersten und am besten geschützt?", fragte der kommissarische DEA-Chef Chuck Rosenberg dieser Tage suggestiv. Und er gab die Antwort gleich selbst: "Wahrscheinlich in Sinaloa." Es klang ein bisschen wie ein Suchauftrag an die Kollegen unten in Mexiko, denen man bei der DEA seit Guzmáns Flucht noch weniger vertraut als vorher.
In den unendlichen Weiten seiner Heimatregion kennt sich "El Chapo", "der Kleine", nicht nur bestens aus, sondern verfügt auch über ein zuverlässiges Netz an Vertrauten, Unterstützern und Informanten. Im rauen Nordwesten Mexikos ist das Kartell von Sinaloa die Autorität, und die Regierung gilt als Eindringling.
Hier, wo Guzmán geboren wurde, ist "El Chapo" König. Denn er und seine Organisation machen das, was der mexikanische Staat nie gemacht hat. Sie zeigen Flagge. Guzmán hat Schulen, Straßen und Kirchen bauen lassen, seine Leute helfen bei Notfällen und Naturkatastrophen. Einen Teil seiner immensen Gewinne aus den illegalen Geschäften setzt das Kartell für wohltätige Zwecke ein.
Bei Guzmáns Flucht gab es offenbar massive Versäumnisse
DEA-Chef Rosenberg sagt zwar, dass seine Behörde alle Erkenntnisse über Guzmán mit den Kollegen in Mexiko austausche. Aber im Nachbarland gebe es "institutionelle Probleme", die es schwierig machten, die Informationen zu bündeln.
Anabel Hernández, Investigativ-Journalistin, und so etwas wie Expertin in Sachen Guzmán, weiß genau, was Rosenberg meint: Korruption und den langen Arm des "Kleinen" und seines Sinaloa-Kartells bis in höchste Schaltstellen der Macht in Mexiko. Nach Hernández' Recherchen hat es am Abend des 11. Juli im Altiplano-Gefängnis massive Versäumnisse der Sicherheitsleute gegeben, die dem Verbrecher erst die ungestörte Flucht ermöglichten.
Hernández, die "El Chapos" erste Flucht im Jahr 2001 in einem Buch analysierte, gelang es, Einsicht in die staatsanwaltliche Ermittlungsakte 48/2015 zu bekommen, in der die Untersuchungen zum aktuellen Ausbruch gebündelt werden: Demnach lösten die Wärter erst um 21.35 Uhr Großalarm aus, 43 Minuten nachdem Guzmán auf den Sicherheitskameras in seiner Zelle zuletzt gesehen wurde. (Klicken Sie auf das Video, um die Bilder von "El Chapos" Flucht zu sehen.)
Das nahe des Knasts gelegene Streitkräfte-Regiment wurde erst um 22.04 Uhr aufgefordert, die Gegend um das Gefängnis abzusperren. "Die Regierung hat Guzmán eine Stunde und zwölf Minuten gegeben, um sich in aller Ruhe aus dem Staub zu machen", fasst Hernández zusammen. Innenminister Miguel Ángel Osorio Chong hingegen hatte zwei Tage nach dem Ausbruch noch behauptet, kaum 16 Minuten nach der Flucht Guzmáns sei Großalarm ausgelöst worden.
Allmählich wird auch bekannt, wie unangetastet das Finanznetz Guzmáns und seines Sinaloa-Syndikats in den 17 Monaten blieb, die er im Gefängnis verbrachte. Mexikos Justiz hat nicht eine Firma, nicht ein Haus oder Grundstück beschlagnahmt - obwohl das mexikanische Recht dies zulässt. "Es wurde kein einziges Konto eingefroren, kein Peso, Dollar oder Euro konfisziert", kritisiert Edgardo Buscaglia, Kriminalitätsexperte von der Universität Columbia in New York. Buscaglia bezeichnet die Komplizenschaft zwischen Teilen der Zentralregierung und dem Sinaloa-Kartell als "Pax Mafiosa", eine Art Verabredung zur Straflosigkeit.
Nur so konnte Guzmáns Organisation zur mächtigsten Mafia in Mexiko und Lateinamerika werden und laut Buscaglia sogar zu einer der fünf größten Verbrecherorganisationen weltweit, die ihre Tentakel in mehr als 40 Staaten ausgestreckt hat. Das Sinaloa-Kartell ist heute ein moderner multinationaler Konzern, dessen besondere Stärke darin liegt, dass in lokalen, regionalen und zentralstaatlichen Regierungsinstanzen korrumpierte Beamte für sie arbeiten.
Angesichts der zweifelhaften Rolle staatlicher Stellen in Mexiko hat die US-Justiz für den Fall einer neuerlichen Festnahme Guzmáns die Auslieferung des Drogenbosses beantragt. Wie dringend die USA "El Chapo" haben wollen, belegt auch die ausgesetzte Belohnung. Bis zu fünf Millionen US-Dollar zahlt die DEA für Hinweise auf Guzmáns Aufenthaltsort.