Englische Krawall-Justiz Im Zweifel gegen den Angeklagten

Festnahme eines 19-Jährigen im Londoner Stadtteil Hackney: Politisierung der Gerichte
Foto: WPA Pool/ Getty ImagesAuf einen groben Klotz gehört ein grober Keil - nach diesem Motto werden viele der englischen Randalierer der vergangenen Woche abgeurteilt. Der konservative Premierminister David Cameron und seine Minister betonen bei jeder Gelegenheit, dass sie harte Strafen für alle an den Krawallen Beteiligten erwarten. Und die Richter, die bereits 1300 Urteile im Schnellverfahren gesprochen haben, scheinen den politischen Vorgaben nur zu gern zu folgen.
Zwar ist die Justiz unabhängig, doch beklagen Bürgerrechtler und liberale Politiker, dass die Gerichte unter dem öffentlichen Druck ihre rechtsstaatliche Zurückhaltung aufgegeben haben und unverhältnismäßig harte Strafen aussprechen.
"Wir sehen außerordentliche Strafen für opportunistische Vergehen, die auf den ersten Blick weniger schwer erscheinen", sagte Kenneth MacDonald, der ehemalige Generalstaatsanwalt von England und Wales, dem "Guardian". Der liberaldemokratische Lord warnte, die Gerichte dürften sich nicht von einem "kollektiven Verlust der Verhältnismäßigkeit" erfassen lassen.
Insbesondere zwei Fälle sorgen für Empörung. Der 20-jährige Jordan B. und der 22-jährige Perry S. hatten in der Nacht des 9. August im Internet auf Facebook zum Randalieren in ihren Heimatorten Northwich Town und Latchford aufgerufen. Als B. auf dem Parkplatz des lokalen McDonald's eintraf, wartete bereits die Polizei auf ihn. In beiden Fällen kam es nicht zu Krawallen, dennoch wurden die Möchtegern-Anstifter am Dienstag zu je vier Jahren Haft verurteilt.
Vierjährige Haftstrafe für Facebook-Anstifter
Der Richter Elgan Edwards des Chester Crown Court erklärte dem Angeklagten Jordan B. sein hartes Urteil damit, dass er eine "böse Tat" begangen habe. Die Facebook-Botschaft "Smash down Northwich Town" habe ihm "das Blut gefrieren lassen". B. habe diesen Aufruf geschrieben, als "die Nation sich im kollektiven Wahnsinn befand". Vierjährige Haftstrafen sind sonst für Entführungen oder tätliche Angriffe mit einer Waffe reserviert.
Die Urteile erscheinen auch deshalb so krass, weil ein anderes Gericht in einem ähnlich gelagerten Fall zu einem anderen Schluss kam: Der 19-jährige Joshua M. hatte auf Facebook zum Sturm auf den örtlichen Spar-Laden in Bream aufgerufen. In seinem Fall gab sich die Justiz mit der Erklärung zufrieden, es habe sich nur um einen Witz gehandelt.
Die Facebook-Fälle sind bei weitem nicht die einzigen Beispiele, in denen das Strafmaß höchst unterschiedlich ausfällt. Der 18-jährige David A. etwa wurde wegen des Besitzes von zwei gestohlenen Burberry-T-Shirts im Wert von 60 Pfund, die er angeblich auf dem Bürgersteig gefunden hatte, bloß zu einem Tag Gefängnis verurteilt. Der 23-jährige Nicolas R. hingegen erhielt für den Diebstahl von Wasserflaschen im Wert von 3,50 Pfund aus einem Lidl-Supermarkt sechs Monate Haft. Beide hatten keine Vorstrafen.
"Dies sind keine normalen Zeiten"
Ebenso übertrieben wirkt die fünfmonatige Gefängnisstrafe für die zweifache Mutter Ursula N. Ihr Vergehen: Sie hatte ein Paar gestohlene Shorts entgegengenommen.
Die Richter verteidigen ihre ungewöhnliche Härte damit, ein Exempel statuieren zu müssen. Richter Andrew Gilbart aus Manchester etwa schrieb in einem Urteil, die Vergehen in der Nacht des 9. August seien "außerhalb des normalen Kontextes von Kriminalität" erfolgt. Die Gerichte müssten zeigen, dass kriminelles Verhalten unter solchen Umständen längere Strafen nach sich zieht, als wenn es isoliert stattgefunden hätte.
Konservative Blätter applaudieren diesem Rechtsverständnis. "Dies sind keine normalen Zeiten", kommentierte der "Daily Telegraph" in einem Leitartikel. Tausende Bürger hätten in jenen Nächten voller Angst in ihren Betten gelegen. Dies müssten die Gerichte bei ihrer Urteilsfindung berücksichtigen. Selbst wenn viele Strafen in Berufungsverfahren noch verringert würden - was zu erwarten sei - handelten die harten Richter doch im Sinne der gesetzestreuen Mehrheit der Bevölkerung. "Tausende Verbrecher und Hooligans haben eine Lektion erhalten, die sie nicht vergessen werden", lobte das Blatt.
Vor dem Gesetz ist jeder gleich
Es mehren sich jedoch die Stimmen, die eine nachhaltige Schädigung des britischen Rechtsstaats befürchten. Es sei gefährlich, wenn Politiker die Verurteilung übernähmen, gab der liberale Staatssekretär im Justizministerium, Lord McNally, zu bedenken. Auch der "Independent" warnte vor der Politisierung der Gerichte. "In einem Rechtsstaat muss jeder vor der Justiz gleich sein - auch die Plünderer", argumentierte ein Leitartikel. Mehrere liberaldemokratische Politiker plädierten dafür, kleinere Diebstähle nicht mit Gefängnis zu ahnden - insbesondere bei Ersttätern, deren Berufsaussichten dadurch beeinträchtigt würden.
Die bisherige Bilanz der Schnellverfahren spricht eine deutliche Sprache: Zwei Drittel der Angeklagten wurden bei ihrer ersten Anhörung nicht auf Kaution freigelassen, sondern in Haft behalten - deutlich mehr als der Schnitt. Im vergangenen Jahr wurden 90 Prozent aller Angeklagten auf Kaution freigelassen. Experten erwarten eine Welle von Berufungsverfahren. Diese könnten zu deutlich verringerten Strafen führen. Auch der Anwalt von Facebook-Anstifter Jordan B. hat bereits Berufung angekündigt.