Fall Hans-Jürgen S. Erst Serienmörder, dann Unschuldslamm

Ermittler und Staatsanwälte bei der PK am Freitag: Wie viele Menschen hat S. getötet?
Foto: dapdHamburg - 27 Jahre mussten die Ermittler warten. Erst dann konnten sie im Todesfall Gabriele S. der Mutter des Opfers endlich die Nachricht überbringen: Der Mörder ihrer Tochter wurde gefasst. Doch Teil der Botschaft war auch: Der Mann wohnte all die Jahre in ihrer Nachbarschaft.
Hans-Jürgen S. aus Henstedt-Ulzburg in Schleswig-Holstein hat gestanden, zwischen 1969 und 1984 fünf Frauen getötet zu haben - allesamt reine Zufallsopfer, die er spontan aussuchte und die er immer nach dem gleichen Muster verschleppte und umbrachte. Seine Opfer waren zwischen 15 und 22 Jahre alt.
"Er ist nicht mit der Zielsetzung losgefahren, jemanden zu töten", sagte Stefan Winkler, Leiter der Mordkommission. Zunächst habe er seine Opfer aus dem Auto heraus beobachtet und anschließend "überfallartig bei günstiger Gelegenheit angegriffen", sagte Oberstaatsanwältin Birgit Heß. Er habe die Frauen schnell getötet - entweder erdrosselt oder erwürgt. Teilweise habe er die Leichen vom Tatort abtransportiert und an entfernten Orten abgelegt.
Sein Motiv sei immer sexueller Art gewesen, sagen die Ermittler. Auf die sexuellen Handlungen wollen sie aus ermittlungstaktischen Gründen nicht eingehen. Nur so viel: "Das ganze Vorgehen war einzigartig grausam", sagte Winkler.
Die Polizei hatte seit Jahrzehnten den Bruder des Mannes im Visier: Im Februar 1984 galt dieser als einer der Tatverdächtigen im Mordfall der 18 Jahre alten Gabriele S. Doch damals gab es weder Beweise noch Hinweise, dass der Mann mit dem Todesfall zu tun hat. Auch gab es zwischen ihm und dem Opfer keinerlei Beziehung.
Im Herbst 2010 rollten die Ermittler den Fall erneut auf. Spezialisten des Landeskriminalamtes (LKA) war es gelungen, von der Kleidung der Getöteten eine DNA-Spur des mutmaßlichen Täters zu identifizieren. Daraufhin wurden etwa 150 weitere Männer überprüft und für ein neuartiges Verfahren zur DNA-Analyse um eine Speichelprobe gebeten.
Eine Prostituierte zeigte ihn an
Der Bruder von Hans-Jürgen S. gab seine Probe anstandslos ab. Die LKA-Experten stellten fest: Seine DNA stimmte nicht 100-prozentig mit der vom Tatort überein - aber fast. Daraus schlossen die Ermittler, es müsse sich beim tatsächlichen Täter um einen nahen Verwandten des Mannes handeln.
Sie suchten Hans-Jürgen S. auf, nahmen von ihm Speichel, und ein Schnelltest bestätigte: Volltreffer. Der 64-Jährige wurde am 5. April festgenommen, seither sitzt er in Untersuchungshaft.
Hans-Jürgen S. ist gefasst, gilt nicht als suizidgefährdet. "Aber er ist auch ratlos", sagt sein Verteidiger Horst Schumacher. "Er kann sich heute nicht erklären, wie er dazu fähig war. Und es tut ihm furchtbar leid."
Hans-Jürgen S. habe sich von dieser "unfassbaren Phase seines Lebens", wie er den Zeitraum selbst bezeichnet, distanziert. "Er ist ein völlig anderer Mensch als damals", sagt Schumacher. Dass er nach seiner Festnahme auch die vier anderen Taten eingeräumt habe, sei da nur logisch.
Sein Mandant habe sich nach seinem Geständnis den ausführlichen Vernehmungen gestellt, die Gründe für seinen Lebenswandel benannt und einem psychiatrischen Gutachten seiner Person zugestimmt. Die Exploration habe bereits begonnen.
S. ist gelernter Maurer, zuletzt arbeitete er bei einem Hamburger Bauunternehmen. Mit seiner 90-jährigen Mutter lebte er seit seiner Scheidung in einem Haus in einer Reihenhaussiedlung, nur wenige hundert Meter vom Elternhaus seines fünften Opfers entfernt.
Im Verhör packte S. aus
In der Nachbarschaft galt der Handwerker mit dem Vollbart als besonders freundlich, wenn auch zurückhaltend. Seine Leidenschaft für den HSV sorgte bei einigen für Schmunzeln, seinen Wagen schmückte er mit Fan-Devotionalien. "Er wohnte da fast auffällig unauffällig", fasst es ein Ermittler zusammen.
Nur einmal fiel Hans-Jürgen S. aktenkundig auf: Eine Prostituierte aus Hamburg zeigte ihn 1993 wegen gefährlicher Körperverletzung und Vergewaltigung an. Der damals 46-Jährige wurde zu einer einjährigen Bewährungsstrafe verurteilt.
Das Doppelleben des Fünffachmörders begann, als er von 1969 bis 1971 allein in Norderstedt bei Hamburg lebte. Dann heiratete Hans-Jürgen S., zog in eine Reihenhaussiedlung nach Kaltenkirchen, wurde Vater von zwei Töchtern. Inwieweit sein Umfeld von seinen Taten etwas mitbekam, überprüfen nun die Ermittler.
In den Vernehmungen habe sich Hans-Jürgen S. keineswegs als Bestie entpuppt, sagt ein Beamter. "Er hat gesagt, dass er reinen Tisch machen will." Er habe gewusst, dass die anderen Taten ohnehin auffliegen würden.
So gab Hans-Jürgen S. noch am Tag der Festnahme zu, im Februar 1984 die damals 18-jährige Gabriele S. getötet zu haben. Als Anhalterin war sie auf dem Weg in die Discothek "Kutsche" nach Alveslohe. Er hielt an, sie stieg ein, er fuhr mit ihr in eine Fichtenschonung nahe Weddelbrook bei Bad Bramstedt. Dort vergewaltigte er die junge Frau und erdrosselte sie anschließend. Zwei Schülerinnen fanden die Leiche neun Tage später.
Bis ins Detail erinnerte sich Hans-Jürgen S. an die Tat, schilderte sie eindringlich und so exakt, dass gegen ihn Haftbefehl wegen Mordes erging. Bei einem Haftbefehl wegen Totschlags wäre der 64-Jährige auf freien Fuß gekommen. Doch Mord verjährt nicht.
Was die Ermittler nach dem umfassenden Geständnis nicht ahnten: Tage später würde der Verteidiger des Geständigen eine noch umfassendere Einlassung abgeben - Gabriele war das fünfte Opfer des Handwerkers.
Er lauerte seinen Opfern auf
Die erste Tat beging Hans-Jürgen S. eigenen Angaben zufolge im Juni 1969: Er passte Jutta M., eine 22-jährige Optikerin, in Harksheide an einer Bushaltestelle ab und tötete sie in der Nähe ihres Elternhauses in Norderstedt auf offener Straße. Nachbarn hörten noch die verzweifelten Hilfeschreie der Frau.
Nur drei Monate später tötete S. erneut: Am 30. September 1969 nahm er die 16-jährige Renate B. mit, die gegen 20 Uhr am Straßenrand stand und trampte. Er tötete sie so bestialisch wie sein erstes Opfer. Ein Jahr später, am 31. Juli 1970, schnappte sich Hans-Jürgen S. gegen 23 Uhr die 22-jährige Angela B., als sie den Hamburger U-Bahnhof Langenhorn-Markt verließ.
Sein viertes Opfer hieß Ilse G., 15 Jahre alt. Sie war am 24. Oktober 1972 mit dem Fahrrad auf dem Heimweg, als sie ihrem Mörder begegnete. Ihre Leiche fand man erst im Mai 1973, erdrosselt mit den Ärmeln ihrer Jacke.
Die Eltern einiger Opfer sind bereits verstorben, ohne zu wissen, wer für den Tod ihres Kindes verantwortlich ist. Die Staatsanwaltschaft will den Haftbefehl nun auf fünf Morde ausweiten und möglichst schnell Anklage erheben.
Hans-Jürgen S. bestreitet, außer der Tötung der fünf Frauen weitere Taten begangen zu haben. Die Polizei schließt hingegen weitere Verbrechen des Mannes nicht aus, heißt es aus Ermittlerkreisen. Bundesweit würden nun weitere ungeklärte Mordfälle überprüft. Vor allem drei Fälle haben oberste Priorität: Aus der Umgebung ist der Tod dreier Frauen noch immer rätselhaft. "Die passen genau in das Raster", sagte Winkler.
Rechtsanwalt Schumacher ist davon überzeugt, dass Hans-Jürgen S. keine weiteren Frauen auf dem Gewissen und seit dem Mord an Gabriele S. nicht mehr getötet hat. Diese Frage wird in dem bevorstehenden Prozess gegen ihn eine große Rolle spielen: Welche Gefahr geht weiterhin von Hans-Jürgen S. aus - oder ist aus dem Serienmörder tatsächlich ein Geläuterter geworden?