Plädoyers im Fall Heidi K. Die Reue der Justiz

Heidi K. beschuldigte Horst Arnold, er habe sie vergewaltigt. Arnold wurde verurteilt, später freigesprochen, doch sein Leben war zerstört. Nun fordert die Staatsanwaltschaft wegen Freiheitsberaubung eine hohe Haftstrafe für die 48-Jährige.
Heid K. im Landgericht Darmstadt (April 2013): "Hohe kriminelle Energie"

Heid K. im Landgericht Darmstadt (April 2013): "Hohe kriminelle Energie"

Foto: Nicolas Armer/ dpa

Drei Stunden lang zählte die Staatsanwaltschaft Darmstadt am Montag das Sündenregister der 48 Jahre alten Angeklagten Heidi K. auf. Die Ankläger drehten und wendeten jedes Detail, sie suchten und fanden rote Fäden im Gewirr der unzähligen Lügengeschichten der Heidi K., mit denen sich das Landgericht Darmstadt in den vergangenen viereinhalb Monaten beschäftigt und sie aufgeklärt hatte, so gut es eben ging. Die Ankläger verknüpften diese Fäden und woben ein aus ihrer Sicht schlüssiges Bild.

Am Ende fragten sie: Kann nicht auch eine notorische Lügnerin einmal die Wahrheit sagen? Im Fall der Heidi K. laute die Antwort: "Nein".

In den Augen der Staatsanwaltschaft hat sich die vom Dienst suspendierte Lehrerin "nachweislich der schweren Freiheitsberaubung schuldig" gemacht, als sie 2001 ihren Lehrerkollegen Horst Arnold einer Vergewaltigung im Biologie-Vorbereitungsraum der Georg-August-Zinn-Schule in Reichelsheim im Odenwald bezichtigte. Das Landgericht Darmstadt verurteilte Arnold 2002 zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren.

Da Arnold die Tat bestritt, also auch nicht bereute, musste er die Strafe bis zum letzten Tag verbüßen und wurde, nun als gefährlicher Straftäter stigmatisiert, überdies mit drei Jahren Führungsaufsicht belegt.

"Das Ansehen der Justiz beschädigt"

Seine Existenz war ruiniert, obwohl er in einem Wiederaufnahmeverfahren vor dem Landgericht Kassel 2011 freigesprochen wurde. Seine Familie - die alten Eltern, seine Tochter, der Bruder - trugen schwer an dem rufschädigenden Vorwurf. Als Lehrer wurde Arnold nicht mehr übernommen. Er kam nicht mehr auf die Beine, seelisch und körperlich nicht, auch nicht finanziell. Im Sommer 2012 fiel er vom Rad und war tot .

Als Staatsanwältin Susanne Deltau am Montag eine Strafe von sieben Jahren und sechs Monaten gegen Heidi K. beantragte, stockte manchem der Atem. Das klang nach Auge um Auge und süßer Rache. Oder fürchtet die Staatsanwaltschaft einen Freispruch und schaffte sich damit vorsorglich schon eine Revisionsgrundlage?

Frau K. habe "aus grobem Eigennutz und mit hoher krimineller Energie" gehandelt, begründete Deltau den Strafantrag. Die Angeklagte habe gewissenlos und planmäßig Lügengeschichten um ihres Vorteils willen emotionslos eingesetzt. Hinter ihrem Tun stehe ein "verbrecherischer Wille". K. habe zudem "planmäßig die Aufklärung und die Suche nach Spuren erschwert". Dem Ansehen des Lehrerstandes habe sie geschadet, Polizei und Justiz an der Nase herumgeführt. "Dreißig Jahre Bemühungen um die Opfer von Sexualstraftaten hat Frau K. mit Füßen getreten und das Ansehen der Justiz beschädigt", so Deltau.

Die Bezichtigung Arnolds sei nur "ein Stein in einer ganzen Kette falscher Aussagen und Verdächtigungen zur Befriedigung ihres Wunsches nach Geltung", fuhr die Staatsanwältin fort. Und zum Gericht gewandt sagte sie: "Herr Arnold sollte nicht nochmals zum Opfer gemacht werden!"

"Wir bedauern, was damals geschehen ist"

Oberstaatsanwalt Andreas Kondziela hatte zuvor auf die Besonderheiten des Verfahrens hingewiesen, in dem während der Hauptverhandlung noch Ermittlungen angestellt und Akten beigezogen worden waren. "Herr Arnold hätte nie angeklagt und schon gar nicht verurteilt werden dürfen, vor allem, da Sachbeweise für eine Vergewaltigung fehlen", so Kondziela. Es hätte Anlass bestanden, sich das Aussageverhalten des angeblichen Opfers und dessen Verhaltensauffälligkeiten genau anzuschauen. Dass man dies nicht ermittelt habe, sei bedauerlich, es sei ein Fehler gewesen. "Wir sind nicht so loyal, als dass wir nicht sagen: Das war schlecht."

Polizei und Justiz hätten dazu beigetragen, dass Arnold schweres Unglück widerfahren sei. "Wir müssen uns nicht entschuldigen, weil wir" - damit meinte er seine Kollegin Deltau und sich - "uns nicht schuldig gemacht haben. Aber wir bedauern, was damals geschehen ist." Arnolds späterem Verteidiger Hartmut Lierow sei es zu danken, dass es wenigstens zu einer Wiederaufnahme gekommen sei.

Von einer "Kette von Lügengeschichten", bei denen es nach Ansicht der Staatsanwaltschaft um weitere falsche Verdächtigungen durch Heidi K.  ging, etwa um Vergewaltigungsvorwürfe oder den Verdacht einer Vergiftung durch Kollegen, wollte Verteidiger Thorsten Rock nichts wissen. Er hielt K.s Angaben zum angeblichen Tatgeschehen - Arnold soll während einer Pause an die Frau von hinten herangetreten sein und sie anal vergewaltigt haben - für uneingeschränkt glaubhaft.

Verteidigung argumentiert mit "Testosteronausstoß" bei Hitze

In 29 Jahren ihres Lebens, so rechnete Rock dem Gericht vor, habe die Angeklagte vielleicht 60 Mal die Unwahrheit gesagt; etwa die Hälfte davon seien bloß Übertreibungen gewesen. "Das ist eine Lüge pro Jahr im Schnitt!" Da solle sich jeder selbst fragen, wie er es mit der Wahrheit halte. "Wir haben 18 Tage verhandelt, 60 Zeugen vernommen, Sachverständige gehört und unglaublich viele Dokumente verlesen. Nur eines wurde nicht gemacht: Arnold so aufs Korn zu nehmen wie meine Mandantin", kritisierte Rock.

War die gesamte Hauptverhandlung vom Bemühen der Verteidigung gekennzeichnet, Arnold in möglichst schlechtem Licht erscheinen zu lassen, so übertraf sich Rock nun in seinem Plädoyer. Es ging um das Motiv Arnolds und die Frage, ob das Risiko einer Entdeckung in einem Raum, zu dem 20 Lehrer Zutritt hatten, nicht so groß gewesen sei, dass schon aus diesem Grund Zweifel an Heidi K.s Behauptung anzumelden seien. "Die Frau war attraktiv! Es war Sommer, da steigt der Testosteronausstoß", sagte der Verteidiger. "Da geht man auf höchstes Risiko!" Laut Internet, fuhr er fort, brauche man, "wenn man richtig heiß ist", drei bis zehn Sekunden. "Einem Mann wie Arnold ist es zuzutrauen, dass er zum Kollegen gesagt hätte: 'Geh raus, wir machen's gerade!'"

Die Verteidigung beantragte, das Gericht möge "im Zweifel für die Angeklagte" entscheiden, also freisprechen. Heidi K. sagte zum Schluss, sie habe "die Tat noch immer vor Augen". Zumindest daran dürfte nicht zu zweifeln sein.

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