Urteil gegen Heidi K. Keine Wiedergutmachung möglich

Heidi K.: "Mit dem Hang zum Drama"
Foto: Boris Roessler/ dpaWohl ein letztes Mal steht Heidi K. im Mittelpunkt. Alle Aufmerksamkeit im Saal 213 des Landgerichts Darmstadt richtet sich auf sie, als die Vorsitzende Richterin der 15. Strafkammer, Barbara Bunk, das Urteil verkündet: Heidi K. soll wegen schwerer Freiheitsberaubung für fünfeinhalb Jahre in Haft, verliert ihren Beamtenstatus und ihre Pensionsansprüche. Nach Auffassung des Gerichts hat sie ihren Lehrerkollegen Horst Arnold fälschlicherweise der Vergewaltigung bezichtigt.
Heidi K., 48, reagiert nicht. Bloß nichts anmerken lassen. Starr blickt sie unter ihrer merkwürdig anmutenden Perücke aus tizianrotem Kunsthaar geradeaus. Nach der Verkündung des Urteils nimmt sie zwischen ihren drei Verteidigern Platz, lauscht erhobenen Hauptes der knapp 80-minütigen Begründung.
Sie fällt für Heidi K. wenig schmeichelhaft aus. Richterin Bunk bezeichnet sie als "die Angeklagte mit dem Hang zum Drama", quittiert ihr "kriminelle Energie" und seziert nur wenige ihrer Lügengeschichten, aber die bis ins Detail. Im Verfahren hatte K.s komplettes Leben auf dem Prüfstand gestanden: Drei Ehemänner, Kollegen und Vorgesetzte, ihr Sohn, ihr 91 Jahre alter Vater, Freundinnen hatten Heidi K. skizziert - und ein Bild von ihr gezeichnet, das mit ihrer Eigenwahrnehmung nur schwer in Einklang zu bringen ist.
Der psychiatrische Gutachter Norbert Leygraf hatte Heidi K. ein stark ausgeprägtes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Bestätigung sowie einen Mangel an Empathie bescheinigt. Eine Frau mit starker Ich-Bezogenheit, die immer im Mittelpunkt stehen will, nach Anerkennung giert und ihre Vita durch erfundene Geschichten aufwertet.
Abstruse Erzählungen
Würden ihre Märchen stimmen: Heidi K. wäre von allen Ehemännern misshandelt worden, hätte eine Fehlgeburt erlitten, eine Tochter bei einem Autounfall verloren, wäre an Krebs und einem Hirntumor erkrankt, wäre von einem Partner, ihr Kind auf dem Arm, die Treppe hinuntergeschubst worden. Ein Freund, mit dem sie einen Pornoring aufgedeckt hätte, wäre ermordet worden, und ein Verlobter wäre nach einem Kopfschuss im Einsatz gegen al-Qaida erst im Koma gelegen, von ihr gepflegt worden und dann gestorben.
"Eine histrionische Persönlichkeitsstörung erheblichen Ausmaßes", attestierte Leygraf Heidi K. in seinem Gutachten - und darauf bezog sich Richterin Bunk immer wieder in ihrer Urteilsbegründung. Die Münchhausen-Geschichten seien Belege für diese Diagnose. Es hätte ein erfundener Lebensgefährte gereicht, sagte Bunk, aber bei Heidi K. habe er noch den Kopfschuss gebraucht. Als besonders "abenteuerlich" schilderte die Richterin die Episode, wonach Heidi K. in der Schule vergiftet worden sein soll.
Doch durch keine dieser abstrusen Erzählungen wurde jemandem so sehr geschadet wie Horst Arnold. Heidi K., inzwischen vom Dienst suspendiert, hatte ihren Lehrerkollegen 2001 bezichtigt, sie im Biologievorbereitungsraum der Georg-August-Zinn-Gesamtschule im hessischen Reichelsheim missbraucht zu haben. In einer 15-minütigen Pause habe er sie dort von hinten an einen Tresen gepresst und anal vergewaltigt. Das Landgericht Darmstadt verurteilte Arnold im Juni 2002 zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren. Arnold bestritt die Tat vehement, ließ sich auf kein Schuldeingeständnis ein und musste die Strafe deshalb bis zum letzten Tag verbüßen.
Entschuldigung der Richterin
Seine Existenz war ruiniert: Als gefährlicher Straftäter stigmatisiert, wurde Arnold nach seiner Freilassung für drei Jahre eine Führungsaufsicht auferlegt. Seine Lebensgefährtin hatte sich längst von ihm abgewandt, die Schulbehörden verweigerten ihm die Wiedereinstellung. Als Hartz-IV-Empfänger lebte er in einer Sozialwohnung.
Aus dem ehemaligen Sportlehrer war ein aufgedunsener, gebrochener Mann geworden, der im Gefängnis mehr als einmal dem Suizid nahe gewesen war, wie er einem ehemaligen Kollegen anvertraute. Im Juli 2011 bestätigte das Landgericht Kassel seine Unschuld und sprach ihn frei. Ein Jahr später, noch bevor ihm für jeden abgesessenen Tag im Gefängnis 25 Euro ausgezahlt worden waren, blieb sein Herz stehen. Arnold fiel tot vom Fahrrad. Er war 53 Jahre alt.
Die Zerstörung einer Existenz könne man nicht wiedergutmachen, die verlorenen Jahre nicht zurückgeben, sagt Richterin Bunk. "Deshalb kann dieses Urteil keine Wiedergutmachung sein." Auch nicht für Arnolds Angehörige, die unter den Vorwürfen sehr gelitten hätten. Dennoch würde sich "die Justiz gerne bei ihnen entschuldigen".
Die drei Richter und zwei Schöffen konnten sich nicht auf Arnolds Freispruch des Landgerichts Kassel stützen, sondern mussten unabhängig davon prüfen, ob es Beweise für die Schuld von Heidi K. gibt. Es sei "keine einfache Entscheidung" gewesen, sagt Bunk. Denn anders als es kolportiert werde, sei der aktuelle Wissensstand in dem Fall ein anderer als bei Arnolds Verurteilung. Damals hätten viele Zeugen keinen Zweifel an den Vorwürfen gegen den Lehrer gehabt.
"Bis heute hält sie diese Geschichte durch"
"Ein Glaubhaftigkeitsgutachten kann man bei Kindern erstellen, wir Erwachsenen haben gelernt zu lügen", konstatierte Bunk. Heidi K. hat diese Fähigkeit mit schauspielerischer Meisterleistung offensichtlich perfektioniert.
Besonders schrecklich sei, so Bunk, dass Heidi K. kein Motiv gehabt habe - weder ein berufliches noch persönliches oder finanzielles. "Man kann sich nicht vorstellen, dass ein Mensch das ohne Anlass einem anderen antut, aber davon sind wir überzeugt." Nach Ansicht des Gerichts hat Heidi K. keinen konkreten Plan geschmiedet, sondern den Vorwurf zunehmend ausgebaut, als sie merkte, dass Arnold das ideale Opfer war: alkoholkrank, von den Kollegen misstrauisch beäugt.
Heidi K. habe ihre Aussagen peu à peu vertieft, geglättet und sich selbst Verletzungen beigebracht. "Und bis heute hält sie diese Geschichte durch", sagte Bunk und zählte Indizien auf, die die Falschbeschuldigung belegen: Widersprüche in ihren Aussagen zum Tatablauf, Ungereimtheiten bei der angeblich erlittenen Analfissur und eine "ganz klare Lüge" zum angeblichen Tatnachgeschehen.
Das Strafmaß für eine derartige Freiheitsberaubung wie im Fall Heidi K. beträgt ein bis zehn Jahre Haft. Mit fünfeinhalb Jahren hat Heidi K. nun sechs Monate mehr bekommen als damals Horst Arnold. Von einer Rechtsprechung im Sinne von "Auge um Auge, Zahn um Zahn" könne allerdings keine Rede sein, betont Richterin Bunk. Das sehe die Rechtsprechung nicht vor.
Nach der Verhandlung stürzen sich die Journalisten auf Arnolds jüngeren Bruder und seine 77-jährige Mutter, die zur Urteilsverkündung gekommen sind. Heidi K. verlässt den Saal durch einen Seitenausgang. Allein.