Fall Natascha Kampusch Der rätselhafte Tod des Oberst Kröll

Franz Kröll, Chefermittler im Entführungsfall Natascha Kampusch, starb sechs Monate nach der Aufklärung des Verbrechens. Laut Polizei soll sich der 59-Jährige selbst getötet haben. Ein Gutachter widerspricht nun der Suizid-Theorie.
Natascha Kampusch bei der Filmpremiere in Wien: Handelte ihr Entführer allein?

Natascha Kampusch bei der Filmpremiere in Wien: Handelte ihr Entführer allein?

Foto: Herbert Neubauer/ dpa

Franz Krölls Leben endete zweimal. Zuerst am 8. Januar 2010, als die Oberstaatsanwaltschaft Wien auf einer Pressekonferenz bekanntgab, der Fall Natascha Kampusch sei abgeschlossen. Damals ging es vor allem darum, dass es definitiv nur einen Täter gebe: Wolfgang Priklopil, der am 23. August 2006 gegen 20.50 Uhr in Wien vom Zug 23786 in Richtung Floridsdorf überfahren worden war. Von Fremdverschulden offiziell keine Spur.

Wenige Stunden vor Priklopils Tod hatte sich Natascha Kampusch auf dem Gendarmerieposten im niederösterreichischen Strasshof gemeldet. Achteinhalb Jahre galt sie bis zu diesem Moment als vermisst, am 2. März 1998 war sie auf dem Weg zur Schule im Alter von zehn Jahren entführt worden. All die Jahre, so berichtete Kampusch den Ermittlern, sei sie in einem Verlies in einem Einfamilienhaus in Strasshof bei Wien von Wolfgang Priklopil gefangen gehalten worden.

Kröll, Oberst bei der Wiener Polizei und vom Bundeskriminalamt beauftragter Chefermittler in der Causa Kampusch, fehlte bei der Bekanntgabe der Oberstaatsanwaltschaft. Seinen Angaben zufolge war er "kaltgestellt", "abgeschoben" worden, weil er das offizielle Ergebnis nach jahrelanger, mühseliger Polizeiarbeit für Unfug hielt.

Franz Kröll war davon überzeugt, dass sich der außergewöhnliche Entführungsfall ganz anders zugetragen hat, akribisch hatte er Widersprüche dokumentiert, Indizien gesammelt. In der Schlussphase des Verfahrens sei er unter Druck gesetzt worden, habe die Akten schließen und den Mund halten sollen. So hat er es immer wieder selbst erzählt. Nur deshalb sei er auf dem Abstellgleis seiner Beamtenlaufbahn gelandet.

Am 25. Juni 2010 starb Kröll auf der Terrasse vor seiner Wohnung in Graz durch einen Kopfschuss. Seine von ihm geschiedene Ehefrau, auch eine Polizistin, entdeckte ihn dort einen Tag später. Seine Leiche lag auf der Holzbank vor dem Küchenfenster, die rechte Körperhälfte und der Kopf lagen auf der Sitzfläche, die Beine berührten in Sitzposition den Boden.

Franz Kröll trug eine blaue Trainingsjacke, eine schwarze Jogginghose, Socken und Crocs. Zwischen seinen Füßen lag seine Dienstwaffe, eine Walther PPK, Kaliber 7,65. Eine Patrone befand sich noch im Lager, drei weitere im Magazin. Eine Patronenhülse wurde dreieinhalb Meter vom Leichnam entfernt auf der Wiese gefunden.

Auch diesen Fall bezeichneten die Ermittler, ehemalige Kollegen Krölls, schnell für aufgeklärt: Der Oberst habe sich selbst erschossen, er sei depressiv und frustriert gewesen, weil er wieder Dienst nach Vorschrift hätte machen müssen. Angeblich hätten ihn Vorgesetzte am liebsten wieder in Uniform gesehen. "Ich bin aber ein Kriminalist!", soll sich Kröll gewehrt haben. Er galt als unbequemer Zeitgenosse, nicht sonderlich beliebt.

Wurde in die linke oder in die rechte Schläfe geschossen?

Karl Kröll, Bruder des Ermittlers, bezweifelt, dass sich sein Bruder freiwillig das Leben nahm. Er weiß jedoch, dass er als Bruder mit diesen Zweifeln nicht ernst genommen wird. Seit drei Jahren kämpft er darum, dass der Tod seines Bruders noch einmal aufgerollt wird. Bislang vergeblich.

Nun hat er den Institutsleiter der Gerichtsmedizin Graz, Peter Leinzinger, mit einem Gutachten zum Tod des 59-Jährigen beauftragt. Karl Kröll glaubt einfach nicht, dass sich "der Franz" freiwillig das Leben genommen hat.

Die Zweifel des Bruders hat Leinzinger nun bestätigt: Der Universitätsprofessor widerspricht der Suizid-Theorie der Ermittler. Diese hatten von beiden Händen Krölls sogenannte Leit-Taps genommen und mittels Filterpapier, Wein- und Rhodizonsäure die Schusshandbestimmung vorgenommen. Sie kamen zu dem Schluss, dass sich Kröll mit der linken Hand in die linke Schläfe geschossen habe. Krölls Ex-Frau hatte angegeben, dass Kröll zwar mit der rechten Hand geschrieben, viele Tätigkeiten jedoch mit der linken ausgeführt habe.

Gutachter Leinzinger bestätigt nicht, dass der Schussverlauf von links nach rechts erfolgt ist. Vielmehr spricht er von einem "angesetzten Schuss, allenfalls einem Schuss aus allernächster Nähe" und davon, dass "die Einschussöffnung in der Regel größer sei als die Ausschussöffnung, da es durch die aus der Laufmündung austretenden Gase nach Bildung der sogenannten Schmauchhöhle zu einem Aufplatzen der Haut kommt". Im Klartext: Der Schuss erfolgte eher von rechts nach links.

Deshalb sei das Projektil aus Richtung Osten auf die Wiese geflogen, so der Gutachter. Laut Ermittlungsergebnissen soll die Kugel an der Hauswand abgeprallt und in die Wiese geschleudert worden sein. Nach Angaben Leinzingers handelt es sich bei dem angeblichen Patroneneinschuss in die Wand jedoch um ein Bohrloch zur Befestigung einer Wäscheaufhängevorrichtung.

Parlamentarische Anfrage in Planung

In seinem Schlussfazit urteilt der Rechtsmediziner: "Entgegen der Annahme der erhebenden Beamten ist davon auszugehen, dass es sich um einen angesetzten Schuss gehandelt hat, und der Schussverlauf von rechts nach links erfolgt ist." Zudem spreche das Untersuchungsergebnis betreffend Schmauchpartikel an beiden Händen dafür, dass "im Zeitpunkt der Schussabgabe die rechte Hand des Franz Kröll näher zur Waffe war als die linke". Dass an beiden Händen Blutspritzer sichergestellt wurden, könne mit Abwehrspuren zu erklären sein.

Für Karl Kröll ist das dennoch kein Etappensieg, eher eine Bestätigung dafür, dass seine privaten Nachforschungen seit Jahren unterbunden werden. Gemeinsam mit Johann Rzeszut, ehemaliger Präsident des Obersten Gerichtshofs, hat Karl Kröll nach Auswertung aller Akten zum Vermisstenfall Kampusch 27 Indizien zusammengetragen, die fachlich nicht plausibel zu erklären sind oder sich teilweise widersprechen.

Indizien sind ein Testament und ein Abschiedsbrief, die in der Wohnung Krölls gefunden wurden und die Suizid-Theorie laut Ermittlungsakten stützen sollen. Doch das Testament ist mit "Kröll Franz" unterzeichnet, so wie der 59-Jährige immer unterschrieb, wie sein Bruder sagt. Unter dem Abschiedsbrief steht hingegen "Franz Kröll". "Außerdem sind die Abweichungen in der Schrift gravierend", sagt Karl Kröll.

Auch das DIN-A4-Heftchen, mit dem sich sein Bruder stets nach Dienstschluss auf die Terrasse setzte, wobei er die Lesebrille aufsetzte und eine Zigarette rauchte, ist verschwunden. Penibel genau notierte der Kriminaler darin seine Gedanken. Karl Kröll vermutet: auch brisante Notizen zur Causa Kampusch.

"Das Gutachten des Rechtsmediziners Leinzinger soll nun die Grundlage sein für eine parlamentarische Anfrage", hofft Karl Kröll. "Wissen S', der Fall muss doch endlich aufgeklärt werden."

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