Im Polizeiarrest verbrannter Asylbewerber Strafrechtsexperte fordert Untersuchungsausschuss im Fall Oury Jalloh

"Ungeheuerlicher Verdacht": Im Fall Oury Jalloh wirft ein neues Gutachten weitere Fragen auf. Der Kriminologe Tobias Singelnstein fordert nun einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss.
"Eine kleine Sensation": Pressekonferenz der "Initiative in Gedenken an Oury Jalloh" Ende Oktober in Berlin

"Eine kleine Sensation": Pressekonferenz der "Initiative in Gedenken an Oury Jalloh" Ende Oktober in Berlin

Foto: Jörg Carstensen/ DPA

Nach Ansicht des Bochumer Strafrechtsprofessors Tobias Singelnstein sollte der Fall des 2005 in Polizeigewahrsam in Dessau verbrannten Asylbewerbers Oury Jalloh aus Sierra Leone durch einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss aufgearbeitet werden. Die Befunde des neuen Gutachtens, das die "Initiative in Gedenken an Oury Jalloh" unlängst vorgelegt hat, bezeichnet Singelnstein im aktuellen SPIEGEL als "eine kleine Sensation": Schon bisher hätte es in dem Fall "viele Fragezeichen" gegeben, "nun kommen weitere hinzu", sagte Singelnstein dem Nachrichtenmagazin.

Dass Jalloh demnach auch Frakturen des Schädels und einer Rippe erlitten hatte, bevor er verbrannte, sei "etwas ganz anderes" als der bloße Nasenbeinbruch, von dem man bisher ausgegangen sei. Das passe "nicht ohne Weiteres" zu der Behauptung, er habe selbst seinen Kopf auf eine Tischplatte geschlagen. Und diese Feststellungen ließen nun "noch mehr daran zweifeln, dass er seine Matratze selbst anzünden konnte", erklärte Singelnstein gegenüber dem SPIEGEL. Weitere staatsanwaltschaftliche Ermittlungen seien "theoretisch" denkbar, allerdings sei damit nun nicht mehr zu rechnen.

"Ungeheuerlicher Verdacht"

"Der ungeheuerliche Verdacht, dass hier Polizisten einen Menschen in Gewahrsam getötet haben", bleibe laut Singelnstein aber "im Raum". Der Fall sollte deshalb politisch aufgearbeitet werden, mit einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss. Auch da könne man "Zeugen vernehmen und Akten anfordern".

Die Linkenfraktion im Landtag von Sachsen-Anhalt hatte schon länger einen Untersuchungsausschuss gefordert, die regierende Koalition von CDU, SPD und Grünen hatte dies aber abgelehnt. Stattdessen hat der Rechtsausschuss des Landtages den Strafverteidiger und ehemaligen rechtspolitischen Sprecher der Grünen im Bundestag, Jerzy Montag, sowie den früheren Münchner Generalstaatsanwalt Manfred Nötzel damit beauftragt, die Akten im Fall Jalloh zu begutachten.

Dienstgruppenleiter zu Geldstrafe verurteilt

Im Laufe der juristischen Auseinandersetzungen um den Tod Jallohs im Dessauer Polizeigewahrsam war 2012 der damalige Dienstgruppenleiter wegen fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Er hatte es zugelassen, dass Jalloh ohne ständige optische Überwachung blieb, obwohl er um dessen - angebliche - Selbstverletzungsversuche wusste. Laut den gerichtlichen Feststellungen hatte sich Jalloh selbst das Nasenbein gebrochen, als er mit dem Kopf gegen die Scheibe eines Streifenwagens sowie später auf eine Tischplatte stieß; weitere Misshandlungen hätten sich aber nicht feststellen lassen.

Der Frankfurter Radiologe Boris Bodelle kam nun Anfang Oktober vor allem auf Grundlage einer im März 2005 angefertigten Computertomographie des Leichnams von Oury Jalloh zu dem Ergebnis, dass Jalloh auch einen Schädel- und einen Rippenbruch erlitten hatte, und dass diese Verletzungen vor seinem möglichen Tod im Feuer eingetreten sein mussten. Das Oberlandesgericht Naumburg, das parallel über ein Klageerzwingungsverfahren des Bruders von Oury Jalloh zu entscheiden hatte, hielt diese neuen Erkenntnisse indes nicht für stichhaltig. In einem Beschluss vom 24. Oktober heißt es - entgegen des Wortlauts des Bodelle-Gutachtens - der Rippenbruch bei Jalloh stünde "nicht fest"; und auf den von Professor Bodelle festgestellten Schädelbruch geht das OLG in seinem Beschluss nicht näher ein.

An Händen und Füßen gefesselt

Schon vor dem Tod Oury Jallohs war es nach Festnahmen durch Polizisten dieser Dessauer Polizeiwache zu zwei ungeklärten Todesfällen gekommen: Im Dezember 1997 griffen Polizisten dieser Wache einen alkoholisierter Autofahrer auf. Kurz darauf wurde dieser Mann - im Sterben liegend und mit schweren inneren Verletzungen - wenige Häuser entfernt von der Polizeiwache aufgefunden. 2002 wurde ein Obdachloser in die selbe Zelle gesperrt wie später Oury Jalloh. Später fand man ihn dort tot, mit gebrochenem Schädel.

Jalloh war bei einer Polizeikontrolle in Gewahrsam genommen worden, weil er gemeinsam mit anderen Männern mehrere Frauen belästigt haben soll. Einem Gutachten zufolge hatte er knapp drei Promille Alkohol und Spuren von Cannabis und Kokain im Blut. Nachdem die Polizisten ihn in seiner Zelle an Händen und Füßen gefesselt auf eine Matratze gelegt hatten, soll Jalloh mit einem Feuerzeug die Matratze angezündet haben und dabei verbrannt sein.

Woher stammt das Feuerzeug?

In dem Fall gab es von Anfang an zahlreiche Merkwürdigkeiten. So sprang zwar der Feueralarm der Zelle an, doch der Dienstgruppenleiter schaltete diesen ab, da er angeblich von einem Fehlalarm ausging. Unklar ist auch, woher Jalloh das Feuerzeug gehabt haben soll - er war zuvor durchsucht worden.

Eine nach dem Brand angefertigte erste Asservatenliste führt dieses Feuerzeug auch nicht auf, erst auf einer späteren Liste ist es vermerkt. Ein im Auftrag der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh angefertigtes neues Brandgutachten kam 2013 zu dem Schluss, dass der Brand in dieser Form nur durch den Einsatz von mehreren Litern eines Brandbeschleunigers möglich gewesen wäre.

Die vom Rechtsausschuss im sachsen-anhaltinischen Landtag eingesetzten Sonderbeauftragten Montag und Nötzel sollen in Kürze ihre Arbeit aufnehmen.

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