Fall Robert S. Der Schuldspruch, den keiner erwartet hatte

Neun Monate Haft auf Bewährung: Das Lübecker Landgericht hat zwei Polizisten verurteilt, die den Schüler Robert S. ausgesetzt hatten - und der dann überfahren wurde. Die Strafe überraschte Eltern und Angeklagte, der Staatsanwalt meldet Zweifel an.

Lübeck - Bis zuletzt bemühten sich die beiden Polizisten um Gelassenheit. Den Schrecken über das Urteil verbargen sie hinter regungslosen Mienen. Hans Joachim G., der ältere von beiden, stierte auf die sattgrünen Bäume jenseits der Fensterfront. Sein anfängliches Schmunzeln verflog im stickigen Schwurgerichtssaal 163, als der Vorsitzende Richter Christian Singelmann den Schuldspruch begründete. G.'s Kollege Alexander M., in grauem Anzug und weißem Hemd, blinzelte angestrengt zur Richterbank.

Die Kammer hatte die beiden Polizisten gerade zu Freiheitsstrafen von neun Monaten auf Bewährung verurteilt - wegen fahrlässiger Tötung. Die Beamten hatten den Schüler Robert S. 2002 betrunken auf der Straße aufgelesen, dann hilflos wieder ausgesetzt. Er wurde überfahren. Ein tragischer Tod, den die Eltern gesühnt wissen wollten.

Von beiden Beamten - kein Kommentar zum Urteil. Auch nicht von ihren gestern noch so zuversichtlichen Verteidigern. Eiligst huschten die Verurteilten aus dem Saal, ihre schockierten Angehörigen im Schlepptau. Mit einem Schuldspruch hatte niemand gerechnet: Auch Roberts Eltern, die als Nebenkläger im Prozess auftraten, waren überrascht - und atmeten auf.

Doch ausgerechnet Staatsanwalt Marcel Ernst, der wie die Verteidigung auf Freispruch plädiert hatte, will Revision einlegen. Ein Entschluss, der verwundert. "Die Urteilsbegründung hat mich nicht überzeugt", sagt Ernst und greift den Vorsitzenden Richter an. Dieser hatte in seinem einstündigen Vortrag unter anderem die Formulierung "Sollte dieses Urteil irgendwann einmal rechtskräftig werden" gebraucht. Erstaunen im Gerichtssaal. Staatsanwalt Ernst kommentierte die Bemerkung so: "Scheinbar ist er selbst nicht von dem Urteil überzeugt."

Vielleicht war es aber auch nur ein Seitenhieb auf das Rechtssystem, das zwar funktioniere, wie Singelmann eingangs sagte, aber eben große Umwege machte. Denn Roberts Eltern hatten erst ein Klageerzwingungsverfahren anstrengen müssen, damit es zu einem Prozess kam.

"Alle Eltern wissen, wie wir empfinden"

Roberts Mutter, Ewa S., versteckte während der Urteilsbegründung ihre geröteten Augen hinter einer Sonnenbrille. Still weinte sie vor sich hin, einen kleinen Teddy fest in ihrer Hand. "Ich kann nicht sagen, ob ich erleichtert bin", sagt sie nach dem Urteilsspruch. "Alle Eltern wissen, wie wir empfinden."

Erst zum Prozessende konnten sich die beiden angeklagten Polizisten zu einer Entschuldigung durchringen. Alexander M., selbst sechsfacher Vater, wiederholte heute noch einmal: "Es tut mir aufrichtig leid, dass der Junge gestorben ist." Sein Kollege brachte nicht viel mehr über die Lippen als: "Für uns war er voll da."

Die Wut darüber, dass die Angeklagten erst so spät ihr Bedauern über Roberts Tod ausdrückten, ist noch lange nicht abgeklungen. "Das war keine Entschuldigung, sondern eine erzwungene Aussage", flüstert Roberts Mutter. Sein Vater, der mit den Tränen kämpfen musste, als Richter Singelmann noch einmal die Todesnacht seines Sohnes schilderte, sagt: "Das war Taktik, kalt und berechnend." Als umso gerechter empfinde er den Schuldspruch.

Wirre Einsatzberichte - manipulierte Unterlagen?

Die letzten Nächte hatte Roberts Vater noch einmal alle Akten durchgearbeitet und war erneut auf Ungereimtheiten bei den Einsatzberichten gestoßen. Der Anwalt der Eltern, Klaus Nentwig, trug diese heute zwar noch vor, doch nach Rücksprache mit Roberts Eltern verzichtete man auf einen Antrag. Zu viele Anläufe hatten sie während des Prozesses genommen, Klarheit in die wirren Berichte aus jener Unglücksnacht zu bringen. Zurück bleibt der Verdacht, dass die Unterlagen nachträglich geändert wurden. "Dass bei den Akten etwas nicht in Ordnung ist, davon geht auch die Kammer aus", sagte selbst der Richter.

Die Kammer glaubte den Beamten auch nicht, dass sie Robert S. nach Hause fahren wollten, als sie ihn betrunken in einem fremden Vorgarten auflasen. "Sie ließen ihn raus an einem Ort der Einsamkeit - elf Kilometer von dort entfernt, wo sie ihn aufgriffen, 8,5 Kilometer von seinem Zuhause entfernt, mitten in der Nacht, leicht bekleidet. Robert hatte keine Möglichkeit, von dort alleine wegzukommen." Die Angeklagten seien nicht ihrer Aufgabe als Polizisten gefolgt: Die Obhut der Polizei ende dann, wenn die betreffende Person in andere Hände gegeben werde. Warum also brachten sie Robert nicht in die Obhut seiner Eltern? Warum nicht in die eines Taxifahrers, wenn er angeblich darauf bestanden hatte?

Wieso die Polizisten nicht aus dem Dienst entlassen werden

Den Vorwurf der Aussetzung mit Todesfolge, wie die Anklage lautete, sah die Kammer dennoch nicht als zweifelsfrei bewiesen an. "Was bleibt ist fahrlässige Tötung wegen gravierender Sorgfaltspflichtverletzung", so der Richter. Neun Monate auf Bewährung deshalb, weil Alexander M. und Hans Joachim G. damit weiterhin im Dienst bleiben können. Freiheitsstrafen ab einem Jahr ziehen automatisch die Suspendierung vom Dienst mit sich. Bei Verurteilung wegen Aussetzung mit Todesfolge hätte die Mindeststrafe drei Jahre Haft betragen.

Zudem müssen beide neben den Kosten des Verfahrens auch je 1000 Euro an die Björn-Steiger-Stiftung zahlen, die sich für den Rettungsdienst in Deutschland einsetzt. Mit monatlichen Überweisungen von 100 Euro sollten sie stetig an den tragischen Tod des 18-jährigen Robert S. erinnert werden, so der Richter.

Roberts Freunde brauchen keine Aufforderung zum Erinnern. Viele waren zur Urteilsverkündung gekommen - aus Verbundenheit mit ihrem toten Freund, dessen Verlässlichkeit und Fröhlichkeit sie so sehr schätzten.

Gemeinsam mit Roberts Eltern hörten sie den Schuldspruch. Wenn der heutige Tag zwar weniger dunkel als befürchtet ausfiel, so bleibt er dennoch einer von vielen der Trauer. "Das Urteil ist kein Punkt für uns, an dem wir abschließen können", sagt Roberts Vater. "Unser Sohn bleibt tot. Auch wenn wir jetzt befreiter nach Hause gehen: Der Schmerz hört nie auf."

Robert S. - kein Einzelfall

Im Jahr 2003 hatte das Landgericht Stralsund zwei Polizisten wegen Aussetzung mit Todesfolge zu Freiheitsstrafen von jeweils drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Die Streifendienstbeamten aus Stralsund hatten Anfang Dezember 2002 einen 35-jährigen Mann, der volltrunken in einem Supermarkt gestürzt war, aufgelesen, mitgenommen und gegen 20 Uhr außerhalb der Stadt, in einer unbewohnten Gegend, ausgesetzt - bei zwei Grad Celsius und Sturmböen.

Es sollte "eine Lektion" sein und der 35-Jährige aus dem Weg geräumt werden, damit er keine weiteren Einsätze verursache, kam später im Prozess heraus. Der Betrunkene stürzte, verlor das Bewusstsein und starb in dieser Nacht an Unterkühlung. Das Gericht war davon überzeugt, dass die Angeklagten erkannt hatten, dass der Mann stark betrunken und nicht in der Lage war, ohne Hilfe alleine zu laufen.

Der Bundesgerichtshof schmetterte damals die Revisionen der Angeklagten ab.

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