Fall Susanna Warum Ali B. fliehen konnte

Im Prozess um den Tod der 14-jährigen Susanna schildert eine Polizeibeamtin, wie sie den Tatverdächtigen Ali B. ermittelten. Und wie es kommt, dass er genug Zeit hatte, mit seiner Familie abzuhauen.
Der Angeklagte Ali B. (Archivfoto vom ersten Prozesstag)

Der Angeklagte Ali B. (Archivfoto vom ersten Prozesstag)

Foto: Boris Roessler/ dpa

Bereits am Tag nach Susannas Tod stehen Polizeibeamte in der Unterkunft für Asylbewerber in der Berliner Straße im Wiesbadener Stadtteil Erbenheim und suchen nach dem vermissten Mädchen. Sie wissen nicht, dass die 14-Jährige hier in einem Raum ihre letzten Stunden verbracht hat; dass ihr mutmaßlicher Mörder einer der Bewohner hier ist und sich gerade auf dem Weg nach Paris befindet; dass seine Eltern und Geschwister womöglich in diesem Augenblick auf dem Gelände sind. Es ist der 24. Mai vergangenen Jahres. Noch wissen die Polizeibeamten gar nichts.

Für sie ist der Fall Susanna in diesem Moment ein Fall, "wie wir ihn tagtäglich erleben", sagt eine Kriminalbeamtin am Montag vor Gericht. Wenige Meter links von ihr sitzt Ali B., angeklagt wegen Mordes an Susanna. Er hat eingeräumt, das Mädchen getötet zu haben.

Manche Vermisstenfälle erledigten sich von selbst, berichtet die Polizistin. Bis die Sache vom Revier bei der Kriminalpolizei auf dem Tisch lande, seien viele Personen bereits aufgetaucht; manche erreiche man auf ihrem Handy. Und mehr als 90 Prozent der Gesuchten seien bereits registriert und nicht das erste Mal ausgebüxt. Sie spricht von sogenannten Streunern, die in Jugendhilfe-Einrichtungen wohnen und von den Betreuern als vermisst gemeldet werden.

"Vermisstes Mädchen mit schulischen Problemen"

Für die Beamtin und ihre Kollegen ist Susanna aus Mainz ein "vermisstes Mädchen mit schulischen Problemen", dessen bisherige "Abgänge" nicht gemeldet wurden. Ein Mädchen, das sich zuletzt mit Jugendlichen umgab, "die als vermisste Personen auffällig waren", die die Schule schwänzen und sich in der Wiesbadener Innenstadt die Zeit vertreiben.

Für Susannas Mutter muss die Routine der Beamten unerträglich gewesen sein. Aktiv habe sie die Ermittlungsbehörden in Mainz und Wiesbaden mit jedem Hinweis, den sie aus Susannas Umfeld bekommen konnte, versorgt. Die Kriminalbeamtin bestätigt, dass sie jedem dieser Hinweise nachgegangen seien. Deshalb landen sie an jenem 24. Mai auch in der Flüchtlingsunterkunft in Erbenheim, einige aus Susannas Clique sollen dort wohnen.

Doch die Polizei kommt vor Ort nicht weiter. Vier Tage später versucht sie, Susannas Handy zu orten. Es ist ausgeschaltet. Einen Tag später wird eine Telefonkommunikationsüberwachung eingerichtet, es gibt keine Bewegung, das Handy bleibt aus.

Am 29. Mai melden sich Freundinnen von Susanna bei deren Mutter: Sie haben anonyme Anrufe bekommen, ein ihnen unbekannter Mann habe ihnen gesagt, Susanna sei tot. Ihr Leichnam liege an den Bahngleisen von Erbenheim.

Unübersichtlicher Freundeskreis

Am nächsten Tag fliegt ein Hubschrauber weiträumig das Gelände um die Bahngleise ab. Keine Auffälligkeiten. Die Ermittler leiten eine Öffentlichkeitsfahndung ein. Die Polizei kommt nicht voran. "Der ganze Freundes- und Dunstkreis um Susanna war unübersichtlich", sagt die Beamtin im Gericht.

Am 3. Juni, einem Sonntag, erscheint Mansoor Q. auf dem Revier. Er sagt, er wisse, dass Susanna tot sei, wo sie begraben sei und wer sie getötet habe: Ali B., ein Mitbewohner aus der Unterkunft für Asylbewerber in der Berliner Straße, in der auch er einquartiert sei.

Beamte fahren erneut zur Flüchtlingseinrichtung: Doch Ali B. und seine gesamte Familie haben die Unterkunft inzwischen verlassen. Der Tatort liegt in einem Waldbereich an den Bahnlinien. Ein Kriminalbeamter spricht vor Gericht von starkem Buschgeflecht, Dickicht und Dornenhecken. Die Suche ist aufwendig.

Es wird Nacht in Wiesbaden und Mansoor Q. schildert in einer Anhörung, was ihm Ali B. erzählt hat: Wie sich Susanna mit anderen Jugendlichen in Wiesbaden getroffen habe, wie sie mit Ali B., dessen jüngerem Bruder und einem weiteren Mann in die Berliner Straße nach Erbenheim gefahren sei. Wie Ali B. und Susanna in der Nacht aufs Feld seien, wo er das Mädchen getötet habe.

Erst zur Polizei gegangen, nachdem Ali B. abgereist war

Mansoor Q. sagt, er sei 13 Jahre alt. In Wahrheit ist er ein Jahr älter. Er habe "keinen besonders schockierten Eindruck" gemacht, eher einen gefassten, ernstzunehmenden, sagt die Kriminalbeamtin. Nüchtern, relativ emotionslos habe er all das geschildert, was er von Ali B. erfahren habe. Bei der zweiten Befragung habe Mansoor Q. dann geweint und aufgewühlt gewirkt.

Er habe sich erst jetzt getraut, zur Polizei zu gehen, weil die Familie B. abgereist sei. Ob er Ali B. solch eine Tat zutraue, will die Polizistin von Mansoor Q. wissen. Ja, die Familie B. sei eine kriminelle Familie, vor der man Angst haben müsse.

Drei Tage lang dauert die Suche, bis Polizeibeamte am 6. Juni Susannas Leichnam in einem Erdloch entdecken, bedeckt von 30 Ästen, teilweise bis zu fünf Meter lang. Mit Löffeln, Schaufeln und Besen tragen sie Schicht für Schicht ab. Je tiefer es in den Boden geht, desto fester ist die Lehmschicht. In einer Hosentasche steckt Susannas Busfahrkarte. Ihre Hände hat sie zur Faust geballt.

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