Fall Tristan Auf der Spur des Schlächters
Hamburg - Das Leben des 13 Jahre alten Tristan Brübach endet am Nachmittag des 26. März 1998 gewaltsam vor einer Unterführung des Frankfurter Liederbachs im Stadtteil Hoechst. Der Mörder tötet den Schüler, dann schneidet er der Leiche mit einem Messer 20 mal 11 Zentimeter große Gewebe- und Muskelstücke vom rechten Bein und entnimmt dem Opfer anschließend auch noch die Hoden. Der qualvolle Tod und die Verstümmelung der Leiche dauern gut 15 Minuten. Der Mörder entkommt unerkannt. Warum er die Leiche des Kindes so verstümmelte, ist den Fahndern bis heute ein Rätsel.
Seit März 2007 arbeitet ein fünfköpfiges Team der Frankfurter Kripo ("AG Tristan") mit Hochdruck an der erneuten Überprüfung aller Spuren und Hinweise, die es im Fall Tristan je gab. Eine Marathonaufgabe: Inzwischen sind es mehr als 23.000.
SPIEGEL TV Magazin (Sonntag, 23.10 Uhr, RTL) ist es jetzt gelungen, Einblick in die Ermittlungsakten zu bekommen, und zeigt bisher unveröffentlichte Bilder und Akten. Autor Oliver Becker sprach mit Fahndern wie dem mittlerweile pensionierten Leiter der Mordkommission Rudolf Thomas. Kripo und Staatsanwaltschaft erhoffen sich durch die Zusammenarbeit neue Hinweise auf den Täter.
Laut Tatort-Befundbericht der Kripo vom 26. März entdeckten Kinder um 15.45 Uhr im Liederbach-Tunnel Tristans verstümmelten Leichnam. Der inzwischen verschlossene Tunnel wurde 1937 erbaut und diente seit Jahrzehnten vielen Schülern als Abkürzung zwischen dem Hoechster Bahnhof und einer Grünanlage mit Spielplatz.
Tristans Leichnam entsetzt die Pathologen
Noch in der Mordnacht, ab 22.50 Uhr, protokolliert das Frankfurter Zentrum für Rechtsmedizin in einer über sechsstündigen Obduktion unter der Sektionsnummer 282/98 ein Verletzungsbild, wie es weltweit kein zweites Mal bekannt geworden ist: Das Gesicht des Opfers ist von großflächigen Hämatomen gezeichnet, Spuren schwerster Gewalteinwirkung, vermutlich Faustschlägen. Bis zur Bewusstlosigkeit würgt der Täter den Jungen danach mit einem Unterarmgriff. Schließlich trennt er ihm hinterrücks die Kehle durch: mit einem einzigen Schnitt, von einem Ohr bis zum anderen, so dass der Kopf beinahe vom Rumpf getrennt wird.
Die Polizei findet um den Fundort der Leiche kaum Blut, da der Täter während der Tat mit seinem Opfer im fließenden Wasser des Liederbachs steht. Tristan kann sich während des Kampfs offenbar kurzfristig befreien. Doch der Mörder holt ihn nach kurzer Flucht im Bachbett wieder ein. Dort findet das Leben des Jungen sein tragisches Ende.
Als der Junge längst tot ist, lässt der Mörder noch immer nicht von dem Kind ab: Er schleift Tristan 28 Meter in die Dunkelheit in der Mitte des Tunnels, schneidet große Hautteile und Muskelgewebe aus dem Ober- und Unterschenkel sowie der Hüfte des Opfers heraus.
Der Mörder nimmt sich nach der Bluttat Zeit
Ob sich der Täter nicht um seine Entdeckung während der Tat kümmerte, weil er sich am Tatort sicher fühlte, ob er dabei völlig kaltblütig vorging oder ob er sich an der Mordtat berauschte und seine Umgebung während der Tat einfach vergaß, lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen. Die Frankfurter Ermittler entwickelten zum Verhalten des Täters folgende Hypothese: Nachdem der Täter dem Opfer die Körperteile entnommen hatte, wurde die Leiche von ihm sorgfältig und mit relativ großem Aufwand im Tunnel positioniert.
Statt sich nach dem Mord schnell und einfach vom Tatort zu entfernen und die Leiche nach der Tat einfach liegen zu lassen, hat er sie in besonderer Weise zurechtgelegt. Er nimmt sich sogar die Zeit und bringt einen im Kampf verlorenen Schuh des Opfers vom Eingang zurück in die Mitte des Tunnels. Dort legt er die Leiche in einer schlafähnlichen Haltung auf einen Betonsockel, ganz so, als wolle er Tristan dort aufbahren.
Eine Art der Wiedergutmachung?
Bevor der Täter den Tunnel endgültig verlässt, zieht er Tristan die Jacke über den Kopf, um sein Gesicht zu bedecken. Auch seine Hose zieht er über die schweren Schnittverletzungen an den Beinen wieder nach oben. Zumindest ist der Versuch klar erkennbar, auch wenn es nicht vollständig gelingt.
Tristans Schuhe stellt der Täter schließlich exakt auf die Schnittverletzungen an Hüfte und Oberschenkel, und zwar genau so, dass die schweren Verletzungen durch die Schuhe möglichst verdeckt werden. Sie sollen vermutlich die Nacktheit des geschundenen Körpers bedecken. Zusammen mit dem Versuch, die Hose des Opfers wieder hochzuziehen und das Gesicht mit der Jacke zu bedecken, könnte der Täter so versucht haben, die Persönlichkeit des toten Kindes wiederherzustellen. Die Kriminalwissenschaft kennt dieses Verhalten unter dem Begriff des "un-doing" ("ungeschehen machen"), was auf den Versuch einer Art "Wiedergutmachung" hindeuten könnte.
Der hohe zeitliche und organisatorische Aufwand, den der Täter bei der Positionierung der Leiche im Tunnel betrieb, lässt die Vermutung zu, dass ihm die Positionierung der Leiche ebenso wichtig war, wie die Entnahme der Körperteile selbst. Für die Beurteilung der gesamten Tat folgt daraus, dass die Entnahme der Körperteile und die Positionierung der Leiche als Teil einer gesamten Handlung aufgefasst werden könnte.
Blutiger Fingerabdruck auf dem Schulbuch
Inzwischen liegt den Experten des FBI in Quantico (Virginia, USA) der Fall ebenso zur Begutachtung vor wie den Fahndern von Europol und der "International Crime Scene Conference" in Toronto. Ein blutiger Fingerabdruck, den der Täter am Tatort auf einem Schulbuch des Opfers hinterließ, wurde im führenden Institut für Daktyloskopie in Lausanne aufbereitet und in allen weltweit verfügbaren Datenbanken von Fingerspuren abgeglichen. Ohne Erfolg.
In Frankreich, Tschechien und weiteren Staaten Osteuropas wurde zeitweise ebenso intensiv ermittelt, wie in Deutschland. Die Kripo schickte wegen des ungewöhnlichen Verletzungsbildes Anfragen an das Kriegsverbrecher-Tribunal in Den Haag und überprüft eine Anwerbestelle für Fremdenlegionäre. Ein Gruppe von Fallanalytikern ("Profilern") des BKA bündelt alle verfügbaren Erkenntnisse, um die Persönlichkeit des Täters zu entschlüsseln: Handelt es sich bei dem Mörder um einen "netten Jungen von nebenan"? Einen Schwerstkriminellen mit entsprechenden Vorstrafen? Oder um einen außer Kontrolle geratenen Soldaten, der in dieser Tat ein nicht verarbeitetes Kriegstrauma durchlebte?
Ab 2002 geben in einer bundesweit einmaligen Reihenuntersuchung mehr als 10.000 Männer der westlichen Frankfurter Stadtteile ihren Fingerabdruck freiwillig ab. Doch trotz des enormen Aufwands - drängende Fragen bleiben bislang ungeklärt: Welche Beziehung bestand zwischen Täter und Opfer? Kannten sie sich womöglich? Hat der Täter den Tatort ausgewählt? Darauf wissen die Fahnder keine Antwort. Bislang.
Den Beitrag sehen Sie im SPIEGEL TV Magazin am Sonntag, 10. Juni, um 23.10 Uhr auf RTL.
Sachdienliche Hinweise zum Fall Tristan nimmt die Kripo Frankfurt am Main, Mordkommission K11, unter der Telefonnummer 069-755-51108 entgegen.