Fall Tristan Mann mit Narbe und Zopf gesucht

Vor zehn Jahren tötete und verstümmelte ein Unbekannter den Schüler Tristan Brübach aus Frankfurt. Obwohl der Täter am hellichten Tag zugeschlagen hatte, wurde er nie gefasst. Doch nun hat die Kriminalpolizei eine neue Spur.
Von Oliver Becker

Frankfurt - "AG Tristan" heißt die fünfköpfige Sonderkommission der Frankfurter Kriminalpolizei, die seit einem Jahr nun mit Hochdruck alle Spuren und Hinweise überprüft, die es in dem brutalen Mordfall je gab. Eine Marathonaufgabe: Inzwischen sind es mehr als 20.000. Dennoch stießen die Ermittler auf einen rätselhaften Mann, nach dem nun erneut gefahndet wird.

Das Leben des 13 Jahre alten Tristan Brübach endete am Nachmittag des 26. März 1998 gewaltsam vor einer Unterführung des Frankfurter Liederbachs im Stadtteil Hoechst. Der Mörder tötete den Schüler, dann schnitt er der Leiche mit einem Messer 20 mal 11 Zentimeter große Gewebe- und Muskelstücke vom rechten Bein und entnahm dem Opfer anschließend auch noch die Hoden. Der qualvolle Tod und die Verstümmelung der Leiche dauerten gut 15 Minuten. Der Mörder entkam unerkannt.

Laut Tatort-Befundbericht der Kripo vom 26. März entdeckten Kinder um 15.45 Uhr im Liederbach-Tunnel Tristans Leichnam. Der inzwischen verschlossene Tunnel wurde 1937 erbaut und diente seit Jahrzehnten vielen Schülern als Abkürzung zwischen dem Hoechster Bahnhof und einer Grünanlage mit Spielplatz.

Noch in der Mordnacht, ab 22.50 Uhr, protokollierte das Frankfurter Zentrum für Rechtsmedizin in einer über sechsstündigen Obduktion unter der Sektionsnummer 282/98 ein Verletzungsbild, wie es weltweit kein zweites Mal bekannt geworden ist: Das Gesicht des Opfers war von großflächigen Hämatomen gezeichnet, Spuren schwerster Gewalteinwirkung, vermutlich Faustschlägen. Bis zur Bewusstlosigkeit würgte der Täter den Jungen danach mit einem Unterarmgriff. Schließlich säbelte er ihm hinterrücks die Kehle durch: mit einem einzigen Schnitt, von einem Ohr bis zum anderen, so dass der Kopf beinahe vom Rumpf getrennt wird.

Leiche mit großem Aufwand positioniert

Ob sich der Täter nicht um seine Entdeckung während der Tat kümmerte, weil er sich am Tatort sicher fühlte, ob er dabei völlig kaltblütig vorging oder ob er sich an der Mordtat berauschte und seine Umgebung während der Tat einfach vergaß, lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen. Die Frankfurter Ermittler entwickelten zum Verhalten des Täters folgende Hypothese: Nachdem der Täter dem Opfer die Körperteile entnommen hatte, wurde die Leiche von ihm sorgfältig und mit relativ großem Aufwand im Tunnel positioniert.

In Frankreich, Tschechien und weiteren Staaten Osteuropas wurde zeitweise ebenso intensiv ermittelt wie in Deutschland. Die Kripo schickte wegen des ungewöhnlichen Verletzungsbildes Anfragen an das Kriegsverbrecher-Tribunal in Den Haag und überprüfte eine Anwerbestelle für Fremdenlegionäre. Ein Gruppe von Fallanalytikern ("Profilern") des BKA bündelte alle verfügbaren Erkenntnisse, um die Persönlichkeit des Täters zu entschlüsseln: Handelt es sich bei dem Mörder um einen "netten Jungen von nebenan"? Einen Schwerstkriminellen mit entsprechenden Vorstrafen? Oder um einen außer Kontrolle geratenen Soldaten, der in dieser Tat ein nicht verarbeitetes Kriegstrauma durchlebte?

Ab 2002 geben in einer bundesweit einmaligen Reihenuntersuchung mehr als 10.000 Männer der westlichen Frankfurter Stadtteile ihren Fingerabdruck freiwillig ab. Doch trotz des enormen Aufwands - drängende Fragen bleiben bislang ungeklärt: Welche Beziehung bestand zwischen Täter und Opfer? Kannten sie sich womöglich? Hat der Täter den Tatort ausgewählt? Darauf wissen die Fahnder keine Antwort.

Junger Kerl mit Zopf

Ende März 1998 erschien dann eine 14-Jährige bei der Kripo und machte Angaben über einen Unbekannten, den sie in der Nähe des Tatorts gesehen haben wollte: Ein junger Kerl, das Haar zu einem Pferdeschwanz oder Zopf gebunden. Trotz weiterer Ermittlungen blieb die Identifizierung dieses Mannes unmöglich.

Die intensive Tür-zu-Tür-Befragung im Umkreis des Tatorts lieferte den Ermittlern am 2. April 1998 einen weiteren interessanten Hinweis: Zwei Anwaltsgehilfinnen gaben zu Protokoll, dass sich kurz nach der Tat ein junger Mann in der Kanzlei gemeldet habe. "Nervös und aufgeregt" bat er damals um anwaltlichen Beistand.

In akzentfreiem Deutsch äußerte er sinngemäß folgende Formulierung: Er habe "Mist gebaut" und brauche Rat. Ohne den tatsächlichen Hintergrund dieses Hilferufs zu kennen, schickten die beiden Frauen den Mann zu einem Strafverteidiger.

Darauf verschwand der Mann, dessen Alter, Größe und Gestalt der Beschreibung der ersten Zeugin ähnelte. Auffälligstes Merkmal: Sein langes, dunkleblondes Haar, das er zu einem Zopf oder Pferdeschwanz gebunden trug und eine auffällige Veränderung der Oberlippe, die von einer Vernarbung stammen mag oder eine charakteristische, angeborene Fehlstellung ist.

Der Gesuchte soll zur Tatzeit etwa 20 bis 30 Jahre alt und ungefähr 1,75 Meter groß gewesen sein. Die Polizei ist nicht sicher, ob es sich bei ihm um den Mörder oder einen Passanten handelt. Doch die Ermittler hoffen, dass er etwas über das Verbrechen weiß.


Sachdienliche Hinweise zum Fall Tristan nimmt die Kripo Frankfurt am Main, Mordkommission K11, unter der Telefonnummer 069-755-51108 entgegen.

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