Prozess nach Lübcke-Mord Das neue Geständnis des Stephan Ernst

Angeklagter Ernst (r.) mit Verteidiger Kaplan: Verschiedene Versionen der Tatnacht
Foto: KAI PFAFFENBACH/ REUTERSDie Erwartungen waren enorm. Die ersten Journalisten klappten bereits in früher Nacht vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main Campingstühle auf, um an diesem achten Verhandlungstag im Prozess um den Mord an Walter Lübcke einen Sitzplatz zu bekommen. Strafverteidiger Mustafa Kaplan hatte angekündigt, sein Mandant - der mutmaßliche Mörder Stephan Ernst - werde eine Erklärung abgeben.
Mit leichenblasser Miene betritt Stephan Ernst den Saal, die Hände auf den Rücken gefesselt. Er bespricht sich kurz mit seinem Verteidiger - um 10.34 Uhr ist es dann so weit: Knapp 50 Minuten lang verliest Kaplan im Auftrag seines Mandanten 15 Punkte zu Ernsts Leben und den Anklagevorwürfen. Warum Ernst nicht selbst redet, erklärt er damit, dass es diesem schwerfalle, vor allen zu sprechen. "Aber Sie alle haben Anspruch darauf zu erfahren, was passiert und wie es dazu gekommen ist."
Stephan Ernst beschreibt eine Kindheit voller Angst vor dem alkoholsüchtigen, gewalttätigen Vater, der die Mutter und ihn, den zweitgeborenen Sohn, wegen Nichtigkeiten verprügelte. So willkürlich und grundlos, dass sich der Sohn bereits im Alter von fünf Jahren bewaffnet ins Bett legte: Mit einem Messer zum Schutz vor möglichen Angriffen des eigenen Vaters, den er mehr und mehr hasste, je älter er wurde, und um dessen Liebe er gleichzeitig buhlte. "Ohne seine Liebe fühlte ich mich leer."
"Hölle aus Gewalt, Jähzorn und Einsamkeit"
Der Junge lernte demnach früh, an Gestik, Verhalten und Launen des Vaters abzulesen, wie er sich verhalten muss, um die Brutalität im Alltag zu lenken. So schildert es Stephan Ernst. Er fühlt sich in diesen Jahren verantwortlich für die Mutter. Der Bruder, vier Jahre älter, flüchtet aus dieser "Hölle aus Gewalt, Jähzorn und Einsamkeit". Einsam, weil er, Stephan Ernst, nach der Prügel oft drei, vier Stunden still auf einem Stuhl verharren musste, bis der Vater ihn erlöste. Dann schickte er den Jungen los, Bier, Apfelwein, Schnaps kaufen.
Ernst lässt seinen Anwalt Erinnerungen an brutale Alkoholexzesse des Vaters schildern, die authentisch klingen und, sollten sie stimmen, die Persönlichkeitsstruktur des Rechtsextremisten geprägt haben dürften. Ernst sitzt zwischen seinen Verteidigern und weint bei der Reise in seine Vergangenheit, über die er nie gesprochen habe. Nicht mit dem Vater, der 2006 an Leberzirrhose starb; nicht mit der Mutter, die er glaubte, beschützen zu müssen; nicht mit seiner Ehefrau, die ihn regelmäßig in der Haft besucht.
Den Hass auf Ausländer will er vom Vater übernommen haben, der ihm schon in der ersten Klasse verboten habe: "Nicht mit Kanaken spielen!" Es ist "eine Gemeinsamkeit" zum Vater, die er als Kind zu genießen scheint und die ihm eine Chance gibt, dem Vater zu gefallen. Er beginnt, zu Hause "über Ausländer zu hetzen", wie er sagt.
Mit 15 versucht er ein Haus anzuzünden, in dem mehrere türkische Familien wohnen. Mit 19 rammt er auf der Toilette des Wiesbadener Hauptbahnhofes einem türkischen Imam ein Messer in den Rücken und in die Brust, der Mann überlebt knapp. Ein Jahr später deponiert Stephan Ernst eine Rohrbombe in einem Auto, das er zwischen Containern parkt, in denen Asylbewerber untergebracht sind.
In der Kasseler Neonaziszene fand er eine Heimat
Politisch habe er sich erst in der Haft radikalisiert, sagt Stephan Ernst. In der Kasseler Neonaziszene fand er eine Heimat, trat der NPD bei, nahm an Straßenkämpfen mit Antifa-Anhängern teil und ging auf Demonstrationen, die "immer militanter" wurden.
Wohl habe er sich in der rechten Szene dennoch nicht gefühlt, behauptet er. "Meine Themen waren die Überfremdung, das Aussterben von Deutschen und die Gewalt von Ausländern an Deutschen", sagt Ernst. Die Rassenpolitik im Nationalsozialismus habe er nie geteilt. Als es zu Anfeindungen gegen seine russischstämmige Frau gekommen sei, habe er sich zurückgezogen.
Bis 2014 Markus H. wieder in sein Leben trat, ein Kumpel aus der Szene, der bei Stephan Ernsts Arbeitgeber anheuerte. Der neue Kollege frischt, so klingt es in der Erklärung, die rechte Gesinnung Ernsts wieder auf: Mit Markus H. habe er Survival-Wanderungen unternommen, Schießübungen im Wald, Ausflüge nach Tschechien und Frankreich, gemeinsam seien sie zu Demonstrationen in Chemnitz, Erfurt und Kassel gefahren.
"Er wurde mein Mentor, ich war stolz, ihn überhaupt zu kennen", teilt Ernst mit. Markus H. habe illegal Waffen und Munition hergestellt und ihm eingeschärft, die Deutschen müssten sich bewaffnen. H. soll gesagt haben: "Die politische Lage geht in Richtung Bürgerkrieg."
Der zweite Angeklagte lächelt süffisant
Markus H. sitzt im Gerichtssaal schräg vor Stephan Ernst, süffisant lächelt er vor sich hin und schreibt emsig mit. Markus H. sei für ihn eine "Mischung aus Freund und Vater" gewesen. Er sei stolz gewesen, dass sich H. mit ihm abgab. "Ich war emotional von ihm abhängig, er gab mir Halt." Markus H. kann ein kurzes Auflachen nicht unterdrücken.
H.s Bedenken über die politische Situation in Deutschland seien ihm "logisch und sinnvoll" vorgekommen, so Ernst. Heute weiß er: "Markus H. hat mich manipuliert, radikalisiert und aufgehetzt." Sein Anwalt Kaplan macht eine kurze Pause, dann trägt er in Ernsts Namen weiter vor: "Ich habe ihm erlaubt, so mit mir umzugehen."
Dann vergeht Markus H. das Lachen. Stephan Ernst lässt seinen Verteidiger schildern, wie Markus H. zu Schießübungen eine Zielscheibe mit dem Konterfei Angela Merkels mitgebracht habe. Er habe angekündigt, auch eine Zielscheibe mit Lübckes Profil anzufertigen. Markus H. läuft rot an, er schüttelt den Kopf, schreibt eilig mit.
Nach den Übergriffen von Nordafrikanern in der Kölner Silvesternacht, dem islamistischen Anschlag in Nizza und der Hinrichtung zweier Rucksacktouristinnen in Marokko hätten sie sich "immer mehr" radikalisiert. Markus H. habe die Idee gehabt, Walter Lübcke "mal einen Besuch abzustatten". Mitte Mai 2019 hätten sie diesen Plan konkretisiert und sich für das Kirmes-Wochenende am 1. Juni verabredet.
Er gesteht den Schuss auf Walter Lübcke
Nach der Mittagspause setzt sich Stephan Ernst in die Mitte des Gerichtssaals und zeigt, wie Walter Lübcke in jener Nacht auf seiner Terrasse saß; wie nah er ihm kam, den Rossi-Revolver Kaliber .38 in der Hand, den Hahn gespannt, und wie Markus H. gerufen habe: "Lübcke, Zeit zum Auswandern!" Der CDU-Politiker habe sich aufrichten wollen, da habe er, Ernst, geschossen.
Danach habe er sich sofort umgedreht und Markus H. zugerufen: "Los! Abhauen!" Im Auto habe dieser auf ihn eingeredet: "Fahr normal, bau keinen Unfall. Wir müssen pokern bis zuletzt. Wir wissen doch gar nicht, ob er tot ist."
In seiner Erklärung hatte sich Ernst zuvor direkt an Walter Lübckes Frau und Söhne gewandt: Er wisse, dass es "unentschuldbar" sei, was er mit Markus H. ihnen angetan habe; dass die Familie "immer mit dem Schmerz" leben müsse, den er und Markus H. verursacht hätten. "Was wir getan haben, war falsch, feige und grausam." Es tue ihm leid, betonte Ernst mehrmals. Niemand solle sterben, weil er eine andere Meinung, Religion oder Herkunft habe.
Er übernehme die Verantwortung für den Tod Walter Lübckes und wolle vor allem die Fragen, die die Familie habe, beantworten. Eine dürfte sein, warum er in einem ersten Geständnis, wenige Wochen nach der Tat, die Schuld allein auf sich nahm; in einer zweiten und dritten Einlassung Monate später Markus H. ins Spiel brachte und behauptete, dieser habe geschossen.
Das neue Geständnis, ein Mix aus allen bisherigen Einlassungen
Nun liegt ein weiteres Geständnis vor, das wie ein Mix aus allen bisherigen Einlassungen wirkt - und Markus H. einmal mehr in den Fokus rückt. Sollte der Senat dieser Version mehr Glauben schenken, könnte die Anklage im Fall Markus H. von Beihilfe zum Mord auf Mittäterschaft hochgestuft werden.
Stephan Ernst gibt noch an diesem Tag eine Erklärung für die verschiedenen Versionen: Er habe sich auf Anraten seines ersten Anwalts Dirk Waldschmidt als Einzeltäter präsentiert; sein zweiter Anwalt Frank Hannig habe ihm dann geraten, Markus H. als Schützen darzustellen. Damit habe Hannig den Mitangeklagten Markus H. zu einer Aussage bewegen wollen. "Interessant", merkt der Vorsitzende Richter Thomas Sagebiel an. Hannig wurde inzwischen abberufen.
Am Freitag will Stephan Ernst weiter Fragen des Gerichts, der Bundesanwaltschaft, des psychiatrischen Sachverständigen und der Familie Lübcke beantworten. Fragen der Verteidigung des Mitangeklagten Markus H. will er ebenso wenig beantworten wie die des Nebenklägers Ahmad E., dem er im Januar 2016 ein Messer in den Rücken gerammt haben soll. Damit habe er "nichts zu tun", sagt Ernst und bat das Gericht, an einem Aussteigerprogramm für Rechtsextreme teilnehmen zu dürfen.
„Es ist für die Familie kaum zu verkraften, dass der Hauptangeklagte sein Geständnis mit ausufernden Erklärungen zu einer schweren Kindheit und zur Radikalisierung durch den Mitangeklagten H. verbindet, so als ob es normal sei, dass diese Umstände in eine so schreckliche Tat münden", teilten die Hinterbliebenen später mit. Der Angeklagte sei nicht das Opfer, sagt Sprecher Dirk Metz. "Opfer ist Dr. Walter Lübcke, Opfer sind seine Frau, seine Söhne und die gesamte Familie.“
Am Ende der Verhandlung haken die Richter des 5. Strafsenats noch einmal nach, warum Ernst in jener Juninacht 2019 konkret eine Waffe bei sich trug. "Wir wollten ihn einschüchtern, einen Warnschuss abgeben", sagt er. Ihm und Markus H. sei bewusst gewesen, dass der Überfall auf den Kasseler Regierungspräsidenten publik werden würde. "Wir dachten, mit einer Waffe würde es entsprechend hohe Wellen schlagen." Die Entscheidung zu schießen habe er letzten Endes selbst getroffen.
Er müht sich, seinen Worten Reue anklingen zu lassen. Das könnte auch daran liegen, dass ihn die Trennung von seiner Frau und seinen Kindern stark belastet. Seit seiner Festnahme am 15. Juli vergangenen Jahres habe er keinen Kontakt mehr zu seiner Tochter, sagt Ernst. Sie wolle keinen zu ihrem Vater. Stephan Ernst weint wieder. "Ich hoffe, dass sie mir eines Tages verzeihen wird."