Familiendramen Acht tote Kinder entdeckt - Mütter unter Tatverdacht
Plauen/Darry - Es ist finster und kalt, der scharfe Wind peitscht den Nieselregen durch die Nacht, die Beamten frösteln, da sagt Polizeioberkommisar Jürgen Börner sehr bestimmt: "Kommen Sie, gehen wir!" Einige ausgesuchte Reporter dürfen nun die Absperrung passieren. Langsam wandert die Kolonne die enge Straße hinab, an deren Ende Grausames passiert ist.
Vor dem Haus mit der Nummer 9 bleibt die Gruppe stehen. "Sie haben fünf Minuten", schnarrt Börner und verschränkt die Arme. Sogleich rattern die Fotoapparate, surren die Kameras, tuscheln die Journalisten. Vor ihnen liegt das Gebäude, in dem heute fünf Jungen im Alter von drei bis neun Jahren umgebracht worden sind. Wahrscheinlich von ihrer psychisch kranken Mutter, 31.
Es ist ein einfaches Haus. Helle Backsteine, spitzer Giebel, gläserne Tür. Im Briefkasten steckt noch die Zeitung, in der Hecke liegt ein silbernes Damenrad und auf der obersten der drei Treppenstufen thronen zwei Figuren aus Ton: ein Frosch und eine Ente. Allenfalls der Sperrmüll, der sich links vom Eingang auftürmt, erregt Aufmerksamkeit. Doch der gehöre den Nachbarn, so wendet Polizeisprecher Börner gleich ein, und lasse keine Rückschlüsse auf den Zustand im Inneren des Hauses zu.
"Es sterben gerade so viel Kinder"
Dort liegen zu diesem Zeitpunkt, es ist kurz nach elf Uhr am Abend, noch die Leichen der fünf getöteten Jungen. Spurensicherung, Staatsanwaltschaft, Rechtsmedizin - "auch alle noch drin", flüstert ein Polizeihauptkommissar hinter vorgehaltener Hand. "Es ist furchtbar. Irgendwie sterben gerade so viele Kinder. Was ist denn los mit uns?", setzt der Beamte hinzu und seufzt.
Auch die Nachbarn in Darry sind entsetzt: "Ungaublich", "furchtbar", "grausam", so die ersten Reaktionen. Eine 64-jährige Frau steht weinend in der Nähe des Hauses: "Hoffentlich haben sie nicht so gelitten." Ein 14 Jahre alter Schüler ist mit seinem Vater am Tatort: "Es ist einfach nur schrecklich, dass so etwas in unserem Dorf passieren kann."
Darry ist ein kleiner Ort, er gehört zur Gemeinde Panker im Kreis Plön. Etwa 450 Menschen leben hier. Seit etwa drei Monaten auch die Frau, deren Nachname mit K. beginnen soll und die nun unter diesem schrecklichen Verdacht steht. Hat sie ihre Kinder umgebracht?
"Nach derzeitigem Erkenntnisstand", so formuliert es Polizeisprecher Börner gegenüber SPIEGEL ONLINE, "dürfte das Motiv in einer psychischen Erkrankung der Frau zu suchen sein." Sie stehe unter dringendem Tatverdacht und sei in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen worden. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft war sie bislang nicht vernehmungsfähig.
Eine Polizeisprecherin sagte SPIEGEL ONLINE, die Mutter selbst hätte gegen 15.20 Uhr den Hinweis auf die Tat gegeben. Offenbar hatte sie sich einem Arzt anvertraut, der wiederum die Polizei rief. Die Ermittler wollten Spekulationen zunächst nicht bestätigen, wonach die Kinder mit Tabletten vergiftet und danach mit einer Plastiktüte erstickt wurden. Auch der Todeszeitpunkt ist bisher noch unklar. Die Leichen werden heute in Kiel obduziert.
Die Familie soll dem Jugendamt bekannt, der Polizei jedoch bislang nicht aufgefallen sein. Der NDR meldete, der Bürgermeister des Ortes habe dem Sender bestätigt, dass die alleinerziehende Mutter und die Kinder unter der Betreuung der Behörden standen. Die Kinder hätten einen verwahrlosten Eindruck gemacht.
Ohne Jacken zur Schule
Das Jugendamt habe gestern an dem Haus geklingelt, weil die Kinder nicht in der Grundschule erschienen seien. Die Polizei wollte diese Berichte nicht bestätigen. Lehrern war im vergangenen Monat aufgefallen, dass die beiden älteren Kinder ohne Jacke und mit alten Pausenbroten im Unterricht auftauchten.
Die fünf Jungen sollen von zwei Vätern stammen. Einer der Männer lebt demnach in Berlin und war gestern Abend auf dem Weg nach Darry. Der andere wohne in Schleswig-Holstein, sei aber noch nicht erreicht worden, hieß es.
Heute werde bei dem zuständigen Untersuchungsrichter in Plön die Unterbringung der Frau in einer psychiatrischen Anstalt beantragt, "weil sie nach unserer Einschätzung eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet", sagte Oberstaatsanwalt Uwe Wick und fügte hinzu: "Dies ist ein Fall, der mir in meiner langen Karriere noch nicht untergekommen ist."
Fünf tote Kinder in Schleswig-Holstein, drei in Sachsen
Ortswechsel: Im 630 Kilometer entfernten Plauen in Sachsen hat die Polizei drei Babyleichen entdeckt. Die Mutter, Susann F., so sehen es die Ermittler, hat sie getötet. Jeweils kurz nach der Geburt.
In der Knielohstraße hat die 28-Jährige zuletzt gewohnt. Die Ostvorstadt ist nicht Plauens beste Lage, aber es gibt hier einige schmucke Häuser. In einem lebte bis gestern Susann F.: drei Stockwerke, Gründerzeit-Stuck, Putz in ocker-orange. Nebenan, in der Eckkneipe, versteht man die Welt nicht mehr. "Sie war nett", sagt ein Gast. Unauffällig sei sie gewesen, die hübsche Frau mit den schwarzen glatten Haaren, meist nach hinten frisiert.
Vergangene Woche war man auf die erste Babyleiche gestoßen: Weil Susann F. dieses Kind 2002 im Krankenhaus auf die Welt gebracht hatte, wussten die Behörden von dessen Existenz. Anders als bei den weiteren toten Babys, die 2004 und 2005 zu Hause geboren wurden. Routinemäßig bat man also die Mutter um eine Vorschuluntersuchung für ihre Tochter Celine - doch niemand erschien. Daraufhin erstattete die Stadtverwaltung Anzeige bei der Polizei. Die Beamten entdeckten rasch die Leiche des Kleinkindes: in einem Koffer. Die anderen fand man dann auf einem Balkon und in einer Tiefkühltruhe.
Neunmal war Susann F. in den vergangenen Jahren umgezogen. Jedes Mal - so sehen es die Ermittler - mit im Umzugsgepäck der Tatverdächtigen: drei tote Babys.
"Die Familie war dem Jugendamt nicht bekannt"
Erst gestern, also eine knappe Woche später, kam es zum Haftprüfungstermin. Während der Richter die junge Frau auf freien Fuß setzte, fand die Polizei die zweite Babyleiche. Nach kurzer Fahndung wurde Susann F. wieder festgenommen - und machte die Beamten dann auf ein weiteres totes Kleinkind aufmerksam.
Während die Ermittler bei dem schleswig-holsteinischen Fall sofort soziale Verwahrlosung ausmachten, war man in Plauen zunächst von anderen Verhältnissen ausgegangen: "Die Familie war dem Jugendamt nicht bekannt, da nicht auffällig", sagte eine Jugendamtsmitarbeiterin noch vergangene Woche bei einer Pressekonferenz. Man war sich sicher: "Das war keine Problemfamilie. Es gab ein eigenes Einkommen und sie hat auch keine finanzielle Erziehungshilfe bezogen." So äußerte sich Sozialbürgermeister Uwe Täschner nach dem ersten Babyleichen-Fund gegenüber der Lokalausgabe der "Freien Presse".
Nun heißt es, die Frau sei arbeitslos gewesen. Und die Einkommensverhältnisse seien schwach. "Da gab es einige widersprüchliche Aussagen", sagte Rainer Räch, Chef der Plauener Lokalausgabe zu SPIEGEL ONLINE.
Ungeklärt ist vieles: Wie kann beispielsweise der Lebensgefährte von Susann F. nicht bemerkt haben, dass diese mehrfach schwanger war? Obwohl die junge Frau - laut Aussagen von Nachbarn - alles andere als korpulent ist? "Ach, das kann gar nicht sein", sagt eine Frau mit grauen Locken in der Eckkneipe. Schon auf der Straße habe man der Frau ihre letzte Schwangerschaft angesehen - vergangenes Jahr gebar die Tatverdächtige einen Sohn. Ja, viel unterwegs sei der Partner von Susann F. gewesen, auf Montage. "Aber das musste der sehen", sagt die Frau.
Die tote Celine packte die Mutter in einen Koffer
Dass niemand etwas von den verschwundenen Kindern bemerkt haben will, ist ebenso schwer nachvollziehbar. Dabei wurde der Koffer mit der toten Celine bei Verwandten entdeckt. Auch die beiden anderen toten Babys fand man nicht in der derzeitigen Wohnung von Susann F., sondern "im familiären Umfeld", wie es die Ermittler ausdrücken. Beispielsweise in der Pestalozzistraße, einer hübschen Adresse mit renovierten Altbauten.
Die Tatverdächtige streitet bislang jede Schuld ab: Sie behauptet, jedes der drei Mädchen sei kurz nach der Geburt plötzlich tot gewesen. Die zwei Söhne der Frau, außer dem kleinen ein siebenjähriger Junge, sind den Behörden zufolge bei Verwandten untergebracht.
Polizeipräsident Dieter Kroll sprach heute von einem "tragischen Ereignis". Die Kinder bekämen "erst jetzt die Aufmerksamkeit, die ihnen viel früher hätte zuteil werden sollen", sagte er. Verwandte und Nachbarn müssten mehr sensibilisiert werden, um solche Vorkommnisse zu verhindern.
Während sich Sachsens Ministerpräsident Georg Milbradt (CDU) gegenüber SPIEGEL ONLINE am Abend nicht zu den Vorgängen in Plauen äußern wollte, zeigte sich die schleswig-holsteinische Landesregierung angesichts der Leichenfunde in Darry bestürzt. "Die furchtbare Tat wirft viele Fragen auf, die wir zurzeit nicht beantworten können. Wir stehen mit Fassungslosigkeit vor fünf jungen Menschen, die jetzt tot sind", erklärten Ministerpräsident Peter Harry Carstensen (CDU) und Innenminister Ralf Stegner (SPD).
Drei Babyleichen hat die Polizei in Plauen bisher entdeckt. Anders als in Darry scheinen neue Funde nicht ausgeschlossen. Polizeipräsident Kroll sagt zwar: "Wir gehen davon aus, dass es keine weiteren gibt." Woher er nach den Entwicklungen der vergangenen Woche diese Gewissheit hat, sagte er nicht.
Die Nachbarn der Tatverdächtigen diskutieren immer noch. "Doch, die war freundlich, hat immer gegrüßt", sagt ein Gast in der Eckkneipe. Da fährt ihn eine Frau mit roten Haaren an, die auf der anderen Seite des Tisches sitzt: "Das darfst du jetzt nicht mehr sagen."
Mit Material von dpa und AP