Thomas Fischer

Ferdinand von Schirachs Grundrechteinitiative »Jeder Mensch« braucht kein Mensch

Thomas Fischer
Eine Kolumne von Thomas Fischer
Wenn man mit einer Schulstreik-Proklamation fast den Friedensnobelpreis erhält, müsste es mit einer Neuerfindung Europas doch auch klappen können. Für diesen Kunstschuss benötigt man aber das ganz große Kaliber.
Bestsellerautor Ferdinand von Schirach (Archivbild von 2018)

Bestsellerautor Ferdinand von Schirach (Archivbild von 2018)

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Jörg Carstensen / picture alliance/dpa

Motive

Wenn Ihr entfernter Urahn einmal jemanden gekannt haben sollte, der an der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung mitwirkte und berühmt wurde, und wenn Ihr Großvater einer der berühmtesten unter den Verbrechern des »Dritten Reichs« gewesen wäre, dann hätten Sie vielleicht ein Identitätsproblem. Falls noch ein bisschen Familienvermögen übrig ist, könnten Sie die Sache auf dem Golfplatz oder im Café Einstein aussitzen. Sie müssen aber nicht. Sie können sich auch etwas anderes einfallen lassen. Menschen aus der Nachkriegsgeneration wissen oder ahnen, dass das nicht ganz einfach ist, jedenfalls nicht immer. Der Schriftsteller Ferdinand von Schirach – Jahrgang 1964 – ist allerdings definitiv kein desorientiertes Nachkriegskind, sondern ward hineingeworfen in die Gnade einer wirklich späten Geburt.

Man hat Möglichkeiten. Man kann Rechtsanwalt werden, True-Crime-Autor mit Fällen aus der Literatur, die man aufbereitet, als ob das Gerücht zuträfe, es seien solche aus der eigenen Kanzleivergangenheit. Man kann über schlichte Fragen sehr bedeutend klingende Theaterstücke schreiben oder umgekehrt. Man kann mit Herrn Döpfner spazieren gehen oder sieben ARD-Intendantenriesen gleichzeitig bezaubern, ein mittelstufengeeignetes Existenzialgeplauder mit Zuschauerquiz zeitgleich zur Primetime auszustrahlen. In all diesen Fällen geht es einem, wenn's gut geht, gut, wogegen niemand etwas einwenden sollte, der's nicht besser kann.

Von allen Möglichkeiten eine allerdings doch eher fernliegend erscheinende ist es, sich auf den moralischen Flügeln der erwähnten Dynastie von Bekennern, unerschötterlich Gläubigen und Bekannten von Menschheitsbeglückern an die Seite von Thomas Jefferson zu begeben, um das alte Europa durch Erschaffung einer Magna Charta Nova in ein neues Jahrtausend zu befördern. Dazu muss man dann schon ein sehr ordentliches Sendungsbewusstsein haben. Wie wir seit Stefan George wissen, mangelt es dem deutschen Dichter hieran selten, und manchmal liegt es ja auch in der Familie. Herr von Schirach, Spross derer von Schirach, lässt es sich nicht nehmen, die Motivation für sein neuestes Buchprojekt auf das Wirken der beiden genannten Vorfahren zu stützen. So kommt der weiland Reichsjugendführer zu einem späten Einsatz als Werbeträger. In Berlin, Berlin, so muss man rufen, ist wirklich vieles möglich.

Projekte

Was braucht es, um das alte Europa zum neuen Land der Tapferen und Freien zu machen? Für Juristen ist die Sache klar: Ein Gesetz muss her. Für die ganz großen Fragen nehmen wir da am besten gleich eine Verfassung oder etwas Ähnliches oder sogar noch Besseres, also vielleicht eine »Charta« oder eine »Konvention«. Kurz gesucht und schnell gefunden. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Dokument 2010/C 83/02, Amtsblatt der Europäischen Union Nr. C 83 vom 30.03.2010, S. 189). Man kann das, samt Entstehungsgeschichte, im Internet rasch finden. Falls Ihnen, sehr geehrte Leser, die Grundrechtecharta bisher noch nicht geläufig ist, sollten Sie sich fragen, woher das kommt. Liegt es an Ihnen, an Europa oder daran, dass die entscheidenden Bestimmungen fehlen? Oder mangelt es der Sache irgendwie am praktischen Drive?

Was in der Europäischen Grundrechtecharta steht, kommt normenhierarchisch ganz knapp hinter den Zehn Geboten, allerdings nur in der Moral. In der Wirklichkeit ist es etwas anstrengender, weil da noch der Europäische Unionsvertrag, 27 nationale Verfassungen und allerlei sonstige Normenvielfalten zu beachten sind. Da hatte es Moses leichter, der sich für die Ausführungsgesetze 3000 Jahre Zeit lassen konnte und außerdem eine Zentralregierung bediente und keine 16 Ministerpräsidenten.

Falls Sie nicht so der Typ für die Feinarbeit sind und mehr dem großen Ganzen und Genialischen zuneigen, wäre es nicht angemessen, vielleicht sogar ein bisschen unter Ihrer Würde, sich mit Überlegungen zum Verfassungsrecht oder zu Fragen nach dem Unterschied zwischen objektiven und subjektiven Rechten, zwischen Moral und Recht oder zwischen Pursuit of Happiness und informationellem Selbstbestimmungsrecht aufzuhalten. Auch den Raum zwischen Politik und Kunst sollten Sie mit Blick auf die Beschränktheit allen menschlichen Strebens vielleicht nicht näher erkunden, es sei denn, Sie sind ein Beuys oder ein Schlingensief oder allermindestens ein Sonneborn. Alle anderen, die sich stilistisch eher zwischen Wagner, Léhar und Modern Talking einpendeln, besorgen sich eine Hilfstruppe, die sich ein bisschen mit dem Rechtskram auskennt oder diesen Eindruck erwecken könnte. Ich möchte an dieser Stelle, das sogenannte »Projekt Jeder Mensch« betreffend, nicht über fremde und sicher wohlmeinende Menschen lästern und sie bei ihren Namen rufen. Nur so viel sei verraten: Es sind ein paar Juristen unter den »Mitarbeitern« und Daumendrückern; aber auch Gesichter aus Spartenprogrammen und Klubs, von Comedy bis Finca-Szene. Da ist gar nichts dagegen einzuwenden.

Und der Onlinebewegung sind inzwischen etwa 90.000 Menschen – wie mir scheint, aus Deutschland – beigetreten. Das klingt zugegebenermaßen nicht überwältigend europäisch, was ein erster Einwand sein könnte: Aus Portugal und Slowenien wurde offenbar noch niemand gefragt, ob er mit Herrn Schirach eine rauchen möchte. Aber das kann ja noch kommen, und Frau Thunberg hat ja auch erst mal in Schweden gesessen. Und wenn alle Stricke reißen, sind das 90.000 verkaufte Büchlein am Tag des Erscheinens, und Platz 3 auf der Bestsellerliste ist zumindest mal ein schöner Anfang.

Apropos Büchlein: Eine Grundrechtecharta braucht natürlich ein Chartabuch; mit Auswendiglernen ist es nicht getan. Das leider ohne veganen Schweinsledereinband erscheinende Werk heißt »Jeder Mensch«. Es hat atemberaubende 32 Seiten, ist insoweit also ein klarer Gegenentwurf zum Amtsblatt der Europäischen Union. Allerdings ist dadurch auch der Raum etwas eng, um die europäische Welt einmal wirklich neu zu erklären oder sich ein bisschen genauer dazu zu äußern, wie man die warme Luft aus Berlin in eine europäische Maschine hineinbekommen könnte. Anders gesagt: An Schüleraufsätzen darüber, wie die Welt schöner wäre, fehlt es so wenig wie an den Gezeiten des Ozeans. Für die menschliche Energieerzeugung kommt es aber – um hier einmal mehr aus den Werken von Marx/Kohl zu zitieren – darauf an, was hinten herauskommt.

Entwürfe

Zur Sache: Das Werk heißt so, weil das neue Europa darin auf der Grundlage von sechs »neuen Grundrechten« skizziert wird, deren jedes, wie schon viele der bisher 54 Artikel der Charta, mit den Worten »jeder Mensch« anhebt. Der Jurastudent entnimmt dem, dass es jedenfalls nicht »jeder Deutsche« und auch nicht »jeder EU-Bürger« lautet. Es handelt sich also um sogenannte universelle Grundrechte, welche von der Europäischen Union allen »Menschen« dieser Welt garantiert werden. Mit der Garantie ist es sowieso so eine Sache: Art. 52 Absatz 5 und 6 der Charta lauten (auszugsweise):

»Die Bestimmungen dieser Charta … können durch Akte der Gesetzgebung der Union … sowie durch Akte der Mitgliedsstaaten … umgesetzt werden. Sie können vor Gericht nur bei der Auslegung dieser Akte… herangezogen werden. Den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten ist, wie es in dieser Charta bestimmt ist, in vollem Umfang Rechnung zu tragen.«

Das klingt, als ob Juristen ihre Finger im Spiel gehabt hätten, was allerdings bei der Gestaltung von Recht nicht ganz fernliegend erscheint. Herr Schirach kontert mit dem neu entworfenen Artikel 6:

»Grundrechtsklage. Jeder Mensch kann wegen systematischer Verletzungen dieser Charta Grundrechtsklage vor den Europäischen Gerichten erheben.«

Das ist ein Wort. Jeder Mensch auf der weiten Welt kann vor europäischen Gerichten gegen jeden Mitgliedstaat (?) oder gegen die Union (?) eine subjektive Klage erheben, weil irgendwo in Europa die Charta verletzt wird? Verletzt von wem, gegen wen? Ist es egal, ob man betroffen ist? Haben 330 Millionen USA-Bürger eine Klagebefugnis vor dem EuGH, weil in Ungarn nicht genügend amerikanischer Weizen verkauft werden darf?

Ich kann nicht auf Einzelheiten eingehen, will aber ein paar kurze Anmerkungen zu den anderen fünf vorgeschlagenen Ergänzungsregeln machen. Diese lauten:

»Artikel 1 – Umwelt


Jeder Mensch hat das Recht, in einer gesunden und geschützten Umwelt zu leben.

Artikel 2 – Digitale Selbstbestimmung


Jeder Mensch hat das Recht auf digitale Selbstbestimmung. Die Ausforschung oder Manipulation von Menschen ist verboten.

Artikel 3 – Künstliche Intelligenz


Jeder Mensch hat das Recht, dass ihn belastende Algorithmen transparent, überprüfbar und fair sind. Wesentliche Entscheidungen muss ein Mensch treffen.

Artikel 4 – Wahrheit


Jeder Mensch hat das Recht, dass Äußerungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen.

Artikel 5 – Globalisierung


Jeder Mensch hat das Recht, dass ihm nur solche Waren und Dienstleistungen angeboten werden, die unter Wahrung der universellen Menschenrechte hergestellt und erbracht werden.«

Einige dieser subjektiven Rechte fallen besonders auf: das »Recht auf eine gesunde (?) und geschützte (?) Umwelt« etwa. Bitte versuchen Sie, sehr geehrte Leser, probeweise, sich mit fünf Menschen Ihres sozialen Nahraums darauf zu einigen, was gemeint sein könnte. Wie viele Millionen Klagen auf Einstellung der Viehzucht oder des Automobilverkehrs hätten Sie gern pro Jahr? »Manipulation ist verboten«: auch sehr schön! Untersagung der Vorabendwerbung für Schmerzcreme, Darmbeschwerden und das Altwerden an sich! »Faire Algorithmen«: klingt überzeugend! Wir freuen uns auf die Behörde, die eine Milliarde Algorithmen untersucht, beanstandet und fortlaufend kontrolliert. Natürlich nur, wenn sie faire Algorithmen benutzt! Immerhin ein schönes Projekt für einen entschlossenen Aufschwung der Bürokratie.

Der Höhepunkt, Art. 4: Äußerungen von Amtsträgern müssen »der Wahrheit entsprechen«! Leser dieser Kolumne wissen, dass es mit der Wahrheit nicht ganz einfach ist und mit den Amtsträgern ebenfalls nicht. Mir persönlich würden, auf die Schnelle geschätzt, pro Woche ungefähr 250 schöne Klagen vor den europäischen Gerichten gegen Unwahrheiten von Amtsträgern einfallen. Und damit sind nur die deutschen gemeint. Welche Klagen »jeder Mensch« aus Russland und China, aber auch aus Ungarn oder Spanien gegen die Äußerungen von deutschen Ministerpräsidenten erheben könnte, wagt man sich gar nicht vorzustellen. Es geht ja nicht allein darum, dass den Klagen die Erfolgsaussicht nicht gerade auf die Stirn geschrieben wäre. Sondern zunächst einmal darum, dass irgendjemand über sie entscheiden müsste: »Die europäischen Gerichte«. Mir scheint, Herr Schirach hat sich die Verwaltungskonzeption der seligen DDR-Staatssicherheit zum Vorbild für seine neue europäische Leichtigkeit genommen.

Lösungen

Was soll man dazu sagen? »Wir gründen eine Bewegung und verkaufen ein Buch« ist ja ein durchaus rührendes Unterfangen. Und es besteht kein Zweifel daran, dass uns allen ein paar schöne Sachen einfallen, auf die »jeder Mensch« vielleicht auch gern »ein Recht« hätte: Glückliche Bienen, schöne Weihnachtsgeschenke, ein spannendes Fernsehprogramm, einen großen Garten, freundliche Nachbarn, Liebe, Vertrauen und Zuneigung. Niemand soll den anderen missachten, täuschen, verlassen oder vernachlässigen. Alle sollen froh sein. Damit sind wir beim Pursuit of Happiness gelandet, also schnurstracks bei jenem Vorfahren von Herrn Schirach, den es einst aus dem Sorbischen ins Amerikanische zog, an die Seite der Propheten einer ganz und gar guten Gesellschaft. Glücklich das Volk, das solche Dichter hat!

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