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Geflüchtete Folteropfer Das Gefängnis in mir

Der Folter und dem Krieg entkommen, finden viele Flüchtlinge auch in Deutschland keine Ruhe. Die Gefahr ist vorbei, das Trauma bleibt. Vielleicht für Jahrzehnte, wie Erfahrungen von Stasi-Opfern zeigen.
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Der Autor ist Teilnehmer des Traineeprogramms der Neuen deutschen Medienmacher  für JournalistInnen mit Migrationsgeschichte. Junge NachwuchsjournalistInnen aus Einwandererfamilien und Medienschaffende im Exil haben sich aus verschiedenen Perspektiven mit dem Thema "Freiheit" beschäftigt.

Einen Tag nach seiner Ankunft in Deutschland erfuhr Zardasht Issa, er werde zu einer Erstaufnahmeeinrichtung gebracht. Weder die Sozialarbeiter noch der Busfahrer konnten wohl erahnen, was dem 35-jährigen Syrer deshalb durch den Kopf ging. Das unbekannte Fahrtziel und der Kontrollverlust weckten Erinnerungen an seine Haft in Syrien.

"Immer wenn wir zu einer anderen Abteilung des syrischen Geheimdienstes verlegt wurden, hatten wir keine Ahnung, wo wir landen und was sie dort mit uns tun würden. Als ich in Deutschland ankam, fühlte ich mich genauso - nur dass dieses Mal meine Hände nicht in Handschellen steckten", sagt er.

Auch das Leben in der Flüchtlingsunterkunft erinnerte Zardasht Issa an ein Gefängnis in Syrien. Ihm wurde ein Raum zugeteilt, den er sich mit Fremden teilen musste. "Deine Bewegungen sind eingeschränkt und du musst dich allen Regeln fügen. Du übergibst deine Dokumente und die deutschen Behörden entscheiden alles andere für dich."

Geflüchtete mit posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) haben häufig das Gefühl, ihr eigenes Leben nicht bestimmen zu können, sagt Mechthild Wenk-Ansohn, Leiterin der Ambulanten Abteilung für Erwachsene im Zentrum Überleben, bis 2016 als Behandlungszentrum für Folteropfer Berlin bekannt. "Wenn sie hier ankommen, durchlaufen sie Situationen, die emotional gesehen dem ähneln, was sie in ihren Heimatländern erlebt haben", sagt die erfahrene Psychotherapeutin. "Der permanente Stress und die Unsicherheit, vor allem bezüglich des Aufenthaltsstatus, tragen später dazu bei, dass das Leiden chronisch wird."

Kampf mit Kakerlaken ums Essen

Wie jeden Tag wacht Issa völlig erschöpft in seiner Essener Wohnung auf. Es dauert eine Stunde, bis er sich von seinen Albträumen erholt hat. "Während ich meinen Kaffee trinke und meine erste Zigarette rauche, weine ich, bis ich mich beruhige - erst dann kann der Alltag beginnen."

Zardasht Issa

Zardasht Issa

Foto: Juan Akkash

Issas Leidensweg begann nicht erst 2014, als er mit seiner Frau und Tochter vor der Terrormiliz "Islamischer Staat" aus der kurdischen Stadt Kobane flüchtete. 2006 hatte er seinen ersten Gedichtband veröffentlicht. Einige der Verse fand der syrische Geheimdienst zu kritisch. Issa verbrachte eineinhalb Jahre ohne Anklage im Gefängnis.

"Ich musste mit Tausenden Kakerlaken um die paar Brocken Essen kämpfen, die ich bekam. Und selbst das bisschen Nahrung wurde mir von Bettwanzen aus dem Blut gesaugt", sagt er über seine Zeit in der Zelle Nummer 24 im Hauptquartier des syrischen Geheimdienstes. Aber Einzelhaft war noch ein Segen im Vergleich zu den Tagen, an denen er gefoltert, mit Stöcken am ganzen Körper geschlagen wurde. Vor Kurzem hatte er ein Flashback, als er vom Tod dreier ehemaliger Mitgefangener hörte.

Diese Nachricht traf auch einen anderen ehemaligen politischen Gefangenen, der nach Deutschland geflohen ist: Jowan Koshkar. Von seinem Bonner Zuhause aus verfolgte er in einem kurdischen Fernsehsender die Trauerfeier für die drei jungen Männer.

Erinnerungsschübe, ausgelöst durch Banalitäten

"Ich war hin- und hergerissen zwischen dem Glück, überlebt zu haben, und der Schuld, damals meine Entlassung akzeptiert zu haben und nicht mit ihnen gestorben zu sein", sagt der 32-Jährige. Er war 2008 festgenommen worden war, weil er an einer Kurden-Demonstration teilgenommen hatte. Jedes Mal, wenn er an drei Jahre Folter im berüchtigten Sednaja-Gefängnis denkt, verschwimmt seine Sicht, und er verliert den Kontakt zur Welt um ihn herum.

Fotostrecke

Militärgefängnis Sednaja: Der Knast und das Kloster

Foto: Amnesty International/ Forensic Architecture

Flashbacks, Depression, Schlaflosigkeit und Albträume, die einen schweißnass und mit rasendem Herz aus dem Schlaf reißen - übliche PTBS-Symptome, wie Psychotherapeutin Wenk-Ansohn sagt. Alltägliche Situationen wie eine Fahrkartenkontrolle in der U-Bahn können Erinnerungsschübe hervorrufen. Dann ist die Realität kaum von einer fantasierten Festnahme zu unterscheiden. "Manche Flüchtlinge mit PTBS haben Schwierigkeiten, sich während ihrer Deutschstunden oder während der Arbeit zu konzentrieren und brauchen mehr Zeit, um neue Dinge zu lernen", sagt die Therapeutin.

Jowan Koshkar hat zwei Jobs verloren, weil er sich nicht konzentrieren konnte, sich langsam bewegte und Blackouts hatte. Häufig kann er sich nicht einmal an sein Geburtsdatum erinnern. Jedes Mal, wenn seine Gedanken nicht aufhören, um traumatische Erinnerungen zu kreisen, fragt er laut: "Wie lange noch werde ich so sein?"

Panikattacken bei geschlossenen Türen

Eine einfache Antwort darauf gibt es nicht. Manchmal hilft eine Therapie, PTBS zu überwinden. Aber die Erfahrungen von Folteropfern des DDR-Regimes stimmen nicht gerade optimistisch, wie ein Gespräch mit Christel Michael zeigt.

33 Jahre nach ihrer Verhaftung in Quedlinburg durch die Stasi und anschließender Inhaftierung kann sie immer noch keinen Aufzug betreten . "Zu Hause habe ich keine Türen, weil mich geschlossene Türen in Panik versetzen. Insbesondere Türen ohne Türklinken, wie im Aufzug oder in der U-Bahn. Ich muss so sitzen, dass diese Türen nicht in meinem Sichtfeld sind, weil ich oft schon eine Panikattacke kriege, wenn ich sie nur sehe", sagt die Frau in ihren Sechzigern, die in der DDR zu einer "Feindin des Volkes" erklärt wurde.

Ihre Peiniger benutzten ihren damals 13 Jahre alten Sohn, der kurz zuvor von einem Feuerwerkskörper verletzt worden war, um psychologischen Druck auf sie auszuüben. Man ließ Christel Michael fälschlicherweise glauben, der Junge sei wegen ihrer fehlenden Kooperation nicht ärztlich versorgt worden - und erblinde deshalb.

"Wir nehmen nicht wirklich am sozialen Leben teil", sagt Christel, während sie im Gruppentherapieraum der Beratungsstelle Gegenwind sitzt, die psychosoziale Unterstützung für ehemalige DDR-Häftlinge anbietet. "Im Kino, im Theater oder im Flugzeug muss ich immer in der letzten Reihe sitzen, weil ich immer Angst habe, wenn Leute um mich herum sind, die ich nicht sehen kann." Mit Abscheu in der Stimme sagt sie: "So viele dieser Leute sind auf freiem Fuß, so viele Ehemalige der Staatssicherheit laufen einfach auf den Straßen herum."

Die empfundene Ungerechtigkeit hindert Christel Michael wie Zardasht Issa, mit dem Erlebten abzuschließen. Bei dem Syrer kommen Schwierigkeiten hinzu, die speziell Folteropfer im Exil betreffen. Laut der Bundespsychotherapeutenkammer leiden 40 bis 50 Prozent der erwachsenen Geflüchteten in Deutschland unter PTBS . Gleichzeitig haben die darauf spezialisierten Zentren laut Wenk-Ansohn nur eine Kapazität von einigen Tausend Plätzen; Dolmetscher bezahlt der Staat selten.

Issa würde es schon helfen, das Schicksal derer zu kennen, die ihn gequält haben. Zwei seiner Folterer kamen im Krieg um, aber er weiß nichts über die anderen. "Es könnte sein, dass ich ihnen hier eines Tages auf der Straße über den Weg laufe." Er wünscht sich, seine Peiniger vor Gericht zu sehen. "Gerechtigkeit", sagt er nachdenklich, "ist der einzige Weg, um nachfolgende Generationen davor zu schützen, das Trauma zu erben."

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