Bundespräsident regt erneute Prüfung an Steinmeier zweifelt an Gesetz zur Wiederaufnahme von Mordverfahren

Mordverfahren sollen neu aufgerollt werden können, auch wenn sie zuvor mit einem Freispruch endeten: Bundespräsident Steinmeier hat eine Änderung der Strafprozessordnung unterzeichnet – allerdings mit Bedenken.
Frank-Walter Steinmeier: Unterschrift trotz Zweifeln

Frank-Walter Steinmeier: Unterschrift trotz Zweifeln

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Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat Zweifel an einem Gesetz zur Wiederaufnahme von Strafverfahren bei schwersten Straftaten geäußert. Das Gesetz war von Bundestag und Bundesrat beschlossen worden.

Wie das Bundespräsidialamt mitteilte , unterzeichnete Steinmeier das Gesetz zur Änderung der Strafprozessordnung zwar. »Angesichts der erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken rege ich allerdings an, das Gesetz einer erneuten parlamentarischen Prüfung und Beratung zu unterziehen«, schrieb er an Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, Kanzler Olaf Scholz und Bundesratspräsident Bodo Ramelow.

Durch die Reform ist es künftig möglich, Strafprozesse zu schwersten Straftaten wie Mord, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit erneut aufzurollen, auch wenn sie zuvor mit einem Freispruch endeten.

Voraussetzung ist, dass es neue Beweismittel gibt und dadurch eine Verurteilung des Freigesprochenen wahrscheinlich ist. Neue belastende Informationen können etwa durch neue Untersuchungsmethoden und Fortschritte in der digitalen Forensik zutage treten.

Es gebe jedoch verfassungsrechtliche Fragen, die in Rechtsprechung und Literatur streitig behandelt würden, schrieb Steinmeier laut Präsidialamt in seinem Brief. Er sehe »jedenfalls einige dieser Zweifel nach eingehenden Gesprächen mit Verfassungs- und Strafrechtsexpertinnen und -experten bestätigt«. So gebe es Bedenken, weil niemand wegen derselben Tat mehrmals bestraft werden dürfe. Diese Vorgabe des Grundgesetzes  schütze nach allgemeiner Auffassung auch vor jeder weiteren Strafverfolgung nach Freispruch oder gerichtlicher Einstellung eines Verfahrens.

Außerdem sei zweifelhaft, ob das Gesetz mit dem sogenannten Rückwirkungsverbot vereinbar sei. »Mit der Erweiterung der Wiederaufnahmegründe bei Mord, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen gegen eine Person würden Freisprüche indes rückwirkend grundsätzlich infrage gestellt«, argumentierte Steinmeier laut Präsidialamt. »Die Freigesprochenen sähen sich zukünftig in der Situation, dass ihr Freispruch nachträglich in einen Schwebezustand geriete.«

»Klarer Auftrag an den Gesetzgeber.«

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, frühere Bundesjustizministerin

Der frühere Präsident des Deutschen Anwaltvereins, Ulrich Schellenberg, der gegen das Gesetz die Initiative #Nichtzweimal ins Leben gerufen hat, zeigte sich erfreut über Steinmeiers Entscheidung. Zwar »bedauere« er, dass Steinmeier »nicht in letzter Konsequenz auf die Ausfertigung des Gesetzes verzichtet hat«. Er sei aber froh über »die außerordentliche Klarheit und Direktheit, mit der der Bundespräsident die verfassungsrechtlichen Bedenken benannt hat«. Die Ampelkoalition sei nun »gut beraten, wenn sie diese Bedenken aufgreift«. Dies müsste auch möglichst rasch geschehen, denn sobald das Gesetz im Bundesblatt veröffentlicht worden ist, sei mit den ersten Verhaftungen von rechtskräftig freigesprochenen Angeklagten zu rechnen. Dies gelte insbesondere für Ismet H., den mutmaßlichen Mörder der Frederike von Möhlmann, deren Vater seit Jahrzehnten für diesen Wiederaufnahmegrund kämpft, und deren Fall Triebfeder für die Reform  war.

Auch die frühere Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), die Steinmeier zunächst in einem offenen Brief gemeinsam mit der Initiative #Nichtzweimal aufgefordert hatte, das Gesetz nicht auszufertigen, und unlängst im SPIEGEL angeregt hatte, wenigstens mit einer Ausfertigung zu warten, damit sich der Bundestag nochmals damit befassen kann, zeigte sich dennoch zufrieden: »Das ist ein klarer Auftrag an den Gesetzgeber, das nochmals zu prüfen.« Damit sei »der Weg geöffnet, das offiziell wieder aufzuheben«.

Der Berliner Staatsrechtler Helmut Aust bezeichnete das Schreiben Steinmeiers als »sehr beachtlich«, das sei »etwas, was sehr selten passiert«. Steinmeier habe seine Zweifel zudem »sehr deutlich artikuliert«, sagte der Juraprofessor, der selbst als Gutachter im Gesetzgebungsverfahren die Regelung als verfassungswidrig bezeichnet hatte. Vor allem, dass es seitens des Bundespräsidenten »zu einer solchen Aufforderung an den Gesetzgeber komme, ist wirklich ungewöhnlich, und kann nun im Grunde nicht ignoriert werden«.

Unionsfraktion widerspricht Steinmeier

Die Unionsfraktion im Bundestag wies die verfassungsrechtlichen Bedenken Steinmeiers jedoch zurück. »Die breite Mehrheit der Sachverständigen der öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages hatte die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes ausdrücklich bestätigt«, erklärte ihr rechtspolitischer Sprecher Günter Krings. Diese Sichtweise werde auch von »fast allen wissenschaftlichen Abhandlungen jüngerer Zeit« geteilt.

Die stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion, Andrea Lindholz, erinnerte daran, dass die SPD das aktuelle Gesetz in der GroKo mitgetragen habe und warnte die Ampelregierung davor, »hinter diesen nun endlich erreichten Zustand« zurückzugehen. Das neue Gesetz mache den Weg frei für die Möglichkeit, »in besonderen Extremfällen« Wiederaufnahmen von Verfahren zu ermöglichen. »Für die Angehörigen, die bislang neben freigesprochenen Angeklagten leben mussten, obwohl nachträgliche Beweise deutlich für ihre Täterschaft sprachen, ist dies eine späte, aber überfällige Gerechtigkeit.«

ptz/hip/dpa/AFP
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