Prozess um Lübcke-Mord Tödlicher Denkzettel

Angeklagter Stephan Ernst zwischen seinen Anwälten Mustafa Kaplan (r.) und Frank Hannig: "Ich war schon außer mir"
Foto: Boris Roessler/ DPAStephan Ernst hat sich gefangen. Der mutmaßliche Mörder von Walter Lübcke sitzt durch Plexiglasscheiben getrennt zwischen seinen beiden Verteidigern in Saal 165, er wirkt unaufgeregt. Doch an den beiden vergangenen Verhandlungstagen war er verunsichert. Dazu musste man kein Hellseher sein.
Das war an seiner Gestik, seiner Mimik zu erkennen und daran, wie sich sein Anwalt Frank Hannig ihm zuwandte. Der Vorsitzende Richter Thomas Sagebiel hatte Ernst ins Gewissen geredet, ihn motiviert, die Wahrheit zu sagen. Man konnte Ernst förmlich ansehen, wie er strauchelte: Auf wen sollte er hören - auf seine Anwälte? Auf das Gericht? Nur Ernst selbst weiß, welche Rolle er beim Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten gespielt hat. Alle anderen im Saal können sich nur anhand von Indizien und Beweisen ein Bild machen.
Am 25. Juni vergangenen Jahres - 24 Tage nach dem tödlichen Schuss auf Walter Lübcke – legte Stephan Ernst ein Geständnis ab, unter Tränen und ohne Anwalt. Er gab an, den CDU-Politiker auf der Terrasse seines Hauses im hessischen Wolfhagen-Istha erschossen zu haben. Und er gab Wissen preis, das nur der Täter haben kann. Als das Video von der Vernehmung im Gerichtssaal abgespielt wurde, weinte Ernst erneut, wieder war er verunsichert.
Ganz anders als der gemeinsam mit Ernst Angeklagte Markus H., der stets unbeeindruckt wirkt von dem großen öffentlichen Interesse an diesem Prozess, fast entspannt, als ginge ihn das alles hier in Saal 165 nichts an. Und: Als habe er nichts zu befürchten.
"Dann ging alles sehr schnell"
An diesem dritten Verhandlungstag rückt Markus H. allerdings in den Mittelpunkt des Verfahrens: Stephan Ernst hat am 8. Januar 2020 bei einer richterlichen Vernehmung sein erstes Geständnis widerrufen. Die Aufzeichnung davon wird nun an eine Leinwand im Saal projiziert. Man sieht Stephan Ernst, wie er neben seinem Anwalt Hannig in einem Raum des Polizeipräsidiums Kassel sitzt. Er trägt einen schwarzen Trainingsanzug, darunter ein T-Shirt, Fußfesseln.
Er präsentiert eine neue Version, wie es gewesen sein soll, an jenem 1. Juni 2019. Nicht er, Stephan Ernst, habe demnach auf Walter Lübcke geschossen – sondern Markus H. Aus Versehen. Seit September dränge sein Mandant darauf, diese Version, die Wahrheit, loszuwerden, sagt Anwalt Hannig.
Vier Stunden lang dauert die Vernehmung. Ernst wirkt in dem Video gefasster als bei seiner ersten Einlassung. Er beschreibt, wie er dreimal mit Markus H. zu Lübckes Anwesen gefahren sei, um die Umgebung auszuspionieren und den Plan zu konkretisieren, Lübcke einen "Denkzettel zu verpassen". Im Frühjahr 2019 hätten sie gemeinsam festgelegt, dass das Kirmes-Wochenende dafür ein guter Zeitpunkt sei. Markus H. habe vorgeschlagen, den Regierungspräsidenten mit einer Waffe zu bedrohen, um ihn einzuschüchtern, während Ernst auf ihn einschlagen oder eintreten sollte.
Am 1. Juni 2019 hätten sie sich getroffen, an Ernsts Auto falsche Kennzeichen montiert, und sich in der Dunkelheit auf einer Pferdekoppel auf die Lauer gelegt, keine hundert Meter von Lübckes Grundstück entfernt. "Dann ging alles sehr schnell", sagt Ernst. Sie hätten von unterschiedlichen Seiten die Terrasse, auf der Lübcke saß, eine Zigarette rauchte und auf sein Smartphone sah, betreten. H. habe gerufen: "So, Herr Lübcke, Zeit zum Auswandern!" Ernst will gerufen haben: "Für so einen wie dich gehe ich jeden Tag arbeiten." Walter Lübcke habe versucht, sich aufzurichten, Ernst habe ihn mit der linken Hand an dessen rechter Schulter runtergedrückt: "Beweg dich nicht!"
Ernst habe ihn treten wollen, sei ein Stück zurück, da habe Walter Lübcke erneut versucht, sich auszurichten und gerufen: "Verschwinden Sie!" H. sei "hastig" zurückgetreten, dabei habe sich ein Schuss aus der Waffe gelöst. Walter Lübcke sei zusammengesackt.
Wie kann sich einfach so ein Schuss lösen?
Ernst sitzt in Saal 165, er trägt jetzt einen schwarzen Anzug mit weißem Hemd, die Hände hat er im Schoß gefaltet. Er beobachtet sich selbst, wie er auf der Leinwand demonstriert, wie H. vor Walter Lübcke gestanden und geschossen habe.
In Panik seien sie zurück zum Auto. "Wir sind am Arsch", habe H. gesagt. "Warum hast du geschossen?", will Ernst gefragt haben. – "Wollte ich nicht. Wir müssen jetzt pokern bis zum Schluss."
Der vernehmende Richter am Bundesgerichtshof hat Zweifel. Warum sollte sich ausgerechnet bei H, einem Mann mit großer Affinität zu Waffen, der zudem ein geübter und leidenschaftlicher Schütze sei, ein Schuss lösen? Warum lässt sich Ernst mit einer kurzen Antwort von H. abspeisen, warum bleibt er so teilnahmslos?
"Ich war schon außer mir", sagt Ernst. Aber er klingt nicht glaubwürdig. Frank Hannig, sein Anwalt, spürt das. Mehrmals weist er seinen Mandanten darauf hin, er solle sich nichts ausdenken, nichts sagen, um zu gefallen, sondern auspacken, wie es wirklich war. Schließlich räumt Ernst ein, zu H. gesagt zu haben: "Verdammter Scheiß! Was soll das? Wie konnte das passieren? Das gibt Riesenärger. Die Polizei wird in so einem Fall ganz anders ermitteln."
"Mich überzeugen Sie nicht"
Nach diesem zweiten Geständnis bleiben viele Fragen offen. Wollte Stephan Ernst etwa als Held dastehen, als Märtyrer der rechten Szene, der "Widerstand" leistet in Deutschland? Gab es doch weitere Mitwisser? Wie kam es überhaupt zu seinem ersten Geständnis? Und warum hat er nicht schon damals die für ihn "viel bessere Wahrheit", wie es der Richter formuliert, geschildert?
Er habe das damals nicht "überblickt", erwidert Ernst. Eigentlich habe er schweigen wollen. Weil Kriminaltechniker jedoch seine DNA-Spur an Walter Lübckes Hemd sichergestellt haben, habe ihm sein damaliger Anwalt Dirk Waldschmidt geraten, die Schuld auf sich zu nehmen – und Markus H. rauszuhalten. Waldschmidt habe ihm angeboten, man werde seine Familie unterstützen, das Haus abbezahlen, wenn Ernst in Haft käme. "Das war für mich die bessere Variante."
"Mich überzeugen Sie nicht", sagt der Richter in der Vernehmung. Er könne sich nicht vorstellen, dass sich die Tat so abgespielt habe. "Ich glaube nicht, dass Sie uns schon alles gesagt haben."
Auch Holger Matt, der Anwalt der Familie Lübcke, hält die Unfallvariante für eine "glatte Lügengeschichte". Wesentliche Punkte in dem zweiten Geständnis seien "gekünstelt, konstruiert und nicht erlebnisbasiert" - ganz anders als im ersten.
Nach der Sommerpause will sich Ernst vor Gericht "ausführlich und umfassend" zu den Vorwürfen erklären, die der Generalbundesanwalt gegen ihn erhoben hat. Das kündigte sein Verteidiger an. Vielleicht hat er bis dahin realisiert, was auf dem Spiel steht. Anwalt Frank Hannig formulierte es bei der Vernehmung im Januar unmissverständlich: "Sorry, es geht um Ihren Arsch."