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Urteil im Fall Trayvon Martin Freispruch für Todesschützen schockiert Amerikas Schwarze

Der Mordprozess um den Tod des schwarzen US-Teenagers Trayvon Martin endet dramatisch: Das Gericht spricht den Nachbarschaftswächter George Zimmerman frei. Er soll aus Notwehr gehandelt haben. Bürgerrechtler sind entsetzt.

Das Prozessende kommt schließlich überraschend schnell. Nach 16 Stunden und 20 Minuten Beratungen legen sich die Geschworenen nicht erst mal schlafen, sondern bitten noch am späten Samstagabend alle Beteiligten zurück in den Gerichtssaal. Die Eltern des Opfers, die zuvor keinen Prozesstag ausgelassen haben, sind nirgends zu finden.

Und so verpassen sie die Worte, die von Florida aus durch die gesamten USA hallen: "Wir, die Geschworenen, erklären George Zimmerman für nicht schuldig."

Der Freigesprochene zeigt kaum eine Regung. Keine Spur von Erleichterung darüber, dass er gerade einer lebenslangen Haftstrafe entkommen ist, obwohl er zugegeben hat, einen unbewaffneten schwarzen Teenager erschossen zu haben. Der 29-Jährige ist wie erstarrt. Aber er ist jetzt ein freier Mann - zumindest auf dem Papier.

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Urteil im Fall Trayvon Martin: Protest nach dem Freispruch für George Zimmerman

Foto: POOL/ REUTERS

Geradezu schockiert sind viele andere, nicht nur im Gerichtssaal in Sanford. Denn seit dem Mordprozess gegen Ex-Footballstar O.J. Simpson, dessen Freispruch 1995 Unruhen auslöste, hat kein Justizspektakel die USA so aufgewühlt wie der tragische Tod von Trayvon Martin. Er war auf dem Heimweg vom Kiosk, Kapuze überm Kopf, Kaudragees und Eistee in der Tasche: Beide Fälle wurden zu Parabeln auf das Rassentrauma, an denen sich die Nation aufrieb und über die sie sich spaltete.

George Zimmermans Freispruch dürfte diese Kluft nun abermals nur noch tiefer aufreißen.

"Not guilty" - doch moralisch nicht unbedingt schuldlos: Hier siegten allein die Buchstaben des Gesetzes. Vor allem siegte das bessere Juristenteam, das den Tod eines schwarzen Jugendlichen durch die Hand eines Hobby-Cops erfolgreich als Notwehr darstellen konnte.

"Keine Gerechtigkeit, kein Frieden"

"Wir bitten um Frieden", appelliert die leitende Staatsanwältin Angela Corey, sichtlich bestürzt, nach dem Urteil an die rund hundert meist schwarzen Demonstranten vor dem Gericht, die auf Schildern "Gerechtigkeit für Trayvon" fordern. Einige weinen, andere rufen empört: "Keine Gerechtigkeit, kein Frieden!"

Noch in der Nacht gibt es im ganzen Land Protestaktionen. Etwa in Philadelphia und San Francisco, wo Dutzende Demonstranten in schweigender Trauer durch die Straßen ziehen.

Ihre Sorge: Millionen junge Afroamerikaner müssen nun plötzlich als potentielle "Gefahr" um ihr Leben fürchten, weil das Notwehrargument bestätigt wurde.

Wird der Freispruch künftig mehr rassistisch motivierte Selbstjustiz provozieren? Diese Sorge geht bis nach ganz oben - ins Weiße Haus. "Wenn ich einen Sohn hätte", formulierte es US-Präsident Barack Obama voriges Jahr, "dann sähe er wie Trayvon aus."

"Afroamerikanische Eltern sollten ihre Kinder heute enger umarmen", sagt die schwarze Politologin und MSNBC-Kommentatorin Melissa Harris-Perry, selbst Mutter einer Tochter. "Ein schwarzes, 17-jähriges Kind sollte von einem Laden nach Hause laufen können, ohne erschossen zu werden", klagt auch die Sanford-Staatsanwältin Natalie Jackson.

Doch am Ende zeigt sich, dass sich dieser Prozess selbst kaum eignet als Messlatte für die US-Rassenbeziehungen, als Hoffnung einer neuen Bürgerrechtsbewegung. Denn am Ende sehen sich die Geschworenen hier an eine Regel gebunden, die vor Gericht gilt, doch selten für eine Gesellschaft, die so tief im Umbruch steckt wie diese: Im Zweifel für den Angeklagten.

"Wir haben die Dummheit geschlagen"

Die Mordanklage in diesem trüben Fall war löchrig, die Staatsanwaltschaft oft haarsträubend schludrig, die Beweise letztlich nicht ausreichend. Da half es dann auch nicht mehr, dass die Ankläger im letzten Moment schnell noch die vertretbarere Option Totschlag hinzufügten.

Die Verteidigung konnte ihre kluge Strategie ungestört durchziehen: Gibt es nur den kleinsten Zweifel, die geringste Andeutung von "Notwehr", muss am Ende Freispruch stehen.

Ein heißer, gefühlsgeladener Prozess - und dann das eiskalte Räderwerk der Justiz: So krass ist der Widerspruch, so feindlich sind die Reaktionen, dass dieser Fall doch noch zu einem Symbol der Unversöhnlichkeit wird.

"George Zimmermans Anklage war eine Schande", triumphiert Verteidiger Don West. Schon während des Prozesses hatte seine Tochter Molly ein Instagram-Foto gepostet, auf dem sie einen Zwischensieg mit Eistüten feierte: "Wir haben die Dummheit geschlagen."

Martin-Anwalt Benjamin Crump dagegen tritt vor die Reporter, den Tränen nahe. Er verliest eine Botschaft von Bernice King, der Tochter der US-Bürgerrechtsikone Martin Luther King: "Heute ist ein entscheidender Moment für den Traum meines Vaters", schrieb sie noch kurz vor dem Freispruch. "Wie auch immer das Zimmerman-Urteil ausfällt, wir müssen uns, in den Worten meines Vaters, auf der höheren Ebene der Würde und Disziplin bewegen."

Doch dann, direkt nach dem Freispruch, lässt auch King ihrer Empörung auf Facebook freien Lauf: "Es ist wie '63. Wie die, die mit dem Attentat auf die 16th Street Church im Birmingham davonkamen. Ich bin schockiert und enttäuscht. Dies ist ein trauriger Tag in der Geschichte der US-Rechtssprechung."

Damit spielt sie auf den Bombenanschlag auf eine Baptistenkirche in Alabama an, bei dem in Bernice Kings Geburtsjahr 1963 vier kleine Mädchen umkamen. Die Täter wurde teils erst Jahrzehnte später gefasst und verurteilt.

Das Urteil erinnert auch viele an den Fall Rodney King. Den prügelten vier Polizeibeamte im März 1991 mit mehr als 50 Schlägen nieder. Er wurde zum Synonym für Gewalt gegen Schwarze. Ein Passant filmte das Geschehen und reichte die Aufnahmen an einen Fernsehsender weiter. Das Verfahren wurde in den mehrheitlich von Weißen bewohnten Vorort Simi Valley verlegt. Im April 1992 sprach eine Jury, der kein Schwarzer angehörte, drei der Polizisten frei. Das Verfahren gegen den vierten platzte.

Es folgten gewaltsame Ausschreitungen. 55 Menschen kamen ums Leben, mehr als 2000 wurden verletzt. Später wurden zwei Polizisten doch noch zu Haftstrafen verurteilt. King erhielt von der Stadt Schadensersatz in Höhe von 3,8 Millionen Dollar. Er starb im August 2012 im Swimmingpool seines Hauses.

Vorbild Simpson-Prozess

Anwalt Crump vergleicht Trayvon Martin unterdessen mit einem anderen Symbol des amerikanischen Rassenhasses: Emmet Till. Der 14-jährige Schwarze wurde 1955 ermordet, weil er angeblich mit einer weißen Frau geflirtet hatte.

Für Schwarze und Weiße gelten in der Tat bis heute oft unterschiedliche Maßstäbe - in der Gesellschaft, in der Justiz, in der Politik, im Wahlrecht. Was, wenn Martin weiß gewesen wäre und Zimmerman schwarz? Das fragte auch Staatsanwalt John Guy in seinem Schlussplädoyer. Die Geschworenen - fünf weiße Frauen, eine Latina - bewegte das nicht.

Die größte US-Schwarzenorganisation NAACP zeigt sich "empört und untröstlich", nennt den Freispruch eine "Travestie" und eine Verletzung "der fundamentalen Bürgerrechte". Eine Online-Petition der Gruppe an US-Justizminister Eric Holder, Zimmerman einer Zivilklage zu unterziehen, bekommt schon in der ersten Stunde fast 60.000 Unterschriften.

Ein Zivilprozess brach auch O.J. Simpson das Genick: Nach dem strafrechtlichen Freispruch erklärte ihn ein Zivilgericht doch noch für "haftbar" - was zu seinem finanziellen Abstieg und indirekt zu seiner Verurteilung wegen Raubüberfalls führte, zu 33 Jahren Haft.

Auch für Zimmerman wird nichts mehr sein wie früher. Als Erstes gab ihm das Gericht seine halbautomatische Neun-Millimeter-Pistole zurück, mit der er Martin erschossen hatte. Ob er die wohl behalten werde, wird Zimmermans Bruder Robert gefragt. "Jetzt hat er mehr Grund denn je", antwortet der auf CNN. "Er wird sich für den Rest seines Leben über die Schultern gucken."

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