Polizist als mutmaßlicher G20-Randalierer Kommt ein "Astra" geflogen
Es sind nur vier Sekunden. Zwei Augenblicke. Eine Sequenz aus einem Polizeivideo. Etwa 20 Beamte mit Helm und Knüppel laufen in einen Brückentunnel. Oben am Geländer steht ein Mann im Pulk, holt mit Rechts aus und schmettert eine Bierdose ("Astra"-Pils, Nullfünf) in die Tiefe. Sie prallt auf Kopfsteinpflaster, hüpft, spritzt, kullert. Und bleibt liegen.
Es ist eine Szene vom Vorabend des Hamburger G20-Gipfels, vom 6. Juli 2017, um 20.07 Uhr. Sie birgt eine besondere Brisanz. Denn der Mann da oben, leger in Jeans und Shirt, ist ein Kollege derer da unten: Oliver D., 35, Polizeihauptmeister aus München.
Mitte Januar machte die "Welt" den Fall publik. Die Staatsanwaltschaft Hamburg bestätigte, es laufe ein Strafverfahren. Die Vorwürfe: versuchte gefährliche Körperverletzung und tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte.
Diese Vorwürfe bestreitet D. vehement. Erstmals gibt nun ein Schriftsatz seines Hamburger Verteidigers Alexander Kienzle genaueren Einblick in die merkwürdige Geschichte. Der Schriftsatz liegt dem SPIEGEL vor. "Weder wurde eine Dose auf Polizeibeamte geworfen, noch geschah dies in Verletzungsabsicht", schreibt Kienzle an die Staatsanwaltschaft. Das Verfahren sei einzustellen, es gebe keinen hinreichenden Tatverdacht.
Demnach räumt D. zwar ein, die Dose geworfen zu haben. Er habe aber so gezielt, dass er niemanden habe treffen können. Zum Zeitpunkt des Aufpralls seien die nächsten Polizisten, die gen Tunnel liefen, anderthalb bis zwei Meter entfernt gewesen. Seine Motive: Wut, Hilflosigkeit und Angst vor Polizeigewalt. Es sei das erste Mal gewesen, dass er sich mit seinem Beruf nicht mehr habe identifizieren können.
Kein Beamter in Gefahr?
Anwalt Kienzle sagt, D. habe geworfen, nachdem der erste Trupp aus Polizisten unter dem Tunnel verschwunden sei. Als die Dose auf dem Boden lag, habe es drei Sekunden gedauert, bis die nächsten Polizisten kamen. Es sei kein Beamter in Gefahr gewesen.
Der Fall Oliver D. ist das wohl größte Kuriosum unter den Verfahren gegen mutmaßliche G20-Randalierer. Mehr als 3000 Vorgänge hat die zuständige Soko "Schwarzer Block" eröffnet, mehr als 600 Verdächtige ermittelt. Seit dem Sommer sichten die Beamten Videos mit Krawallszenen vom Gipfel - es sind Terabytes an Daten.
SPIEGEL TV über G20-Krawalle - Als Hamburg brannte
Oliver D. fiel erst nach Monaten auf. Videos gingen im Rahmen einer internen Fahndung auch an die Polizei in München. Kollegen erkannten ihn. D. ist seit zehn Jahren Polizist. Er diente selbst in Hundertschaften und schützte Demos, fuhr später in München Streife. Zuletzt nahm er in der Einsatzzentrale im Polizeipräsidium Notrufe an.
Am 6. Juli steigt er frühmorgens in München in den ICE - obwohl er frei hat, in Uniform. Die Bahn verlangt dann keinen Fahrpreis. In Hamburg lebt seine Freundin, mit der er seit etwa einem Jahr zusammen ist. Bereits am Mittag, so D. bei seiner polizeilichen Vernehmung, geht das Paar zusammen mit Bekannten zum Fischmarkt am Hafen. Dort sammeln sich Protestler für die Anti-G20-Demo "Welcome to Hell".
Anwalt Kienzle sagt, sein Mandant sei nicht Teilnehmer der Demo gewesen, habe auch keinen linksradikalen Hintergrund. Er habe sich privat als Zuschauer am Fischmarkt aufgehalten und bis zum Abend etwa vier Dosen Bier getrunken.
Die Demo mit etwa 12.000 Teilnehmern startet kurz vor 19 Uhr, wird aber bereits nach wenigen Minuten von der Polizei gestoppt. Viele Teilnehmer haben den Fischmarkt da noch nicht verlassen. Es gibt zwei schwarze Blöcke, in denen Demonstranten vermummt sind. Nach etwa einer dreiviertel Stunde weigern sich manche Teilnehmer noch immer, ihre schwarzen Tücher aus dem Gesicht zu nehmen.
Die Polizei greift durch
Die Polizei beschließt, den ersten schwarzen Block vom Zug zu trennen. Als Beamte sich ihren Weg durch die Menge bahnen, um die Entscheidung zu vollstrecken, fliegen Flaschen und Latten. Im Nu entwickelt sich eine Keilerei.
Demonstranten klettern über eine Flutschutzmauer am Straßenrand und rennen zurück Richtung Fischmarkt, Polizisten jagen hinterher. Glassplitter übersäen den Boden. Oliver D. zieht sich mit seinem Freundeskreis auf die Brücke abseits des Fischmarkts zurück. Dort skandieren viele Menschen: "Wir sind friedlich, was seid ihr?"
Nur zwei Minuten nach seinem Dosenwurf gibt D. gemeinsam mit seiner Freundin einem SPIEGEL-Reporter ein Interview. Die Freundin sagt: "Es ist nichts passiert auf dem Platz, und die Bullen sind voll reingegangen." Die Staatsanwaltschaft wirft auch ihr einen Dosenwurf vor.
D. sagt: "Also, es war wirklich friedlich. Man hat in der Ferne ein, zwei Knalle gehört. Und dann kommt aus jeder Ecke die Polizei. Völlig unverständlich." Dabei bleibt er bis heute. Dass seine Kollegen den Fischmarkt mit gezogenem Knüppel geräumt hätten, sei mit seinem Verständnis der Rechtslage nicht vereinbar. Eine Räumung hätten die Polizisten ankündigen müssen.
Für D. geht es jetzt um die Existenz. Kassiert er eine Freiheitsstrafe von einem Jahr oder mehr, ist er seinen Job los. Vom Dienst ist er seit Januar suspendiert.