G20-Jahrestag Hamburg arbeitet sein Trauma auf

Ein Jahr nach G20 bewegt der Krawallgipfel die Menschen an der Elbe noch immer. Die Hamburger Polizei will ihre Fehler gutmachen, im Rathaus streitet man über Verantwortung. Eine Bilanz.
Hamburger G20-Straßenszene

Hamburger G20-Straßenszene

Foto: CHRISTOF STACHE/ AFP

Vor ein paar Tagen kehrte Olaf Scholz (SPD) an seine alte Wirkungsstätte zurück: das Hamburger Rathaus. Für anderthalb Stunden drehte es sich für den Vizekanzler noch einmal um seine Zeit als Erster Bürgermeister der Hansestadt, eine Rolle, die er bis zum März sieben Jahre lang innehatte.

Es ging um G20, den Gipfel, der vor genau einem Jahr die Stadt beben ließ. Schwere Krawalle überschatteten damals das Treffen der weltweit mächtigsten Regierungschefs. Geladen war Scholz vor den Sonderausschuss der Bürgerschaft, der versucht, die Tage der Gewalt aufzuarbeiten.

Neues hatte Scholz nicht zu verkünden. Fest stehe aber, und das unterstrich er: G20 sei ein "einschneidendes Ereignis", das ihn bis heute beschäftige. Damit schlug er gewissermaßen den Ton an für den Jahrestag am 7. und 8. Juli.

Der Gipfel bewegt die Menschen an der Elbe noch immer. Anwohner, Polizisten, Staatsanwälte, Politiker. Welche Folgen hatte G20? Der Überblick.

Die Polizei:

Polizisten 2017 im G20-Einsatz

Polizisten 2017 im G20-Einsatz

Foto: Christian Charisius/ dpa

Sie geriet rasch ins Zentrum der Kritik - weil sie in entscheidenden Situationen nicht präsent war und Fehler machte. Randalierer wüteten ungestört an der noblen Elbchaussee und in der alternativen Schanze. Zugleich beschwerten sich Demonstranten und Passanten über Polizeigewalt.

Polizeipräsident Ralf Martin Meyer räumte inzwischen Fehler ein. "Man kann sagen, dass wir düpiert worden sind", sagte er mit Blick auf die Elbchaussee. Innensenator Andy Grote (SPD) erklärte, es seien "einige Dinge nicht so gelaufen, wie sie hätten laufen sollen".

Als wolle die Polizei Versäumnisse wettmachen, verfolgt sie mit Hochdruck Straftaten von Randalierern. Die Soko "Schwarzer Block" hat mehr als 3200 Verfahren eingeleitet, mehr als 800 Beschuldigte sind bekannt, so die offiziellen Zahlen. Noch immer arbeiten in der Soko 146 Ermittler.

Im Rahmen von zwei Öffentlichkeitsfahndungen suchte die Polizei nach 208 Personen, 54 konnten bisher identifiziert werden. G20 dürfe sich nicht wiederholen, das betont Grote stets. "Die Menschen dürfen nie wieder das Gefühl haben, sie werden allein gelassen." Und Randalierer sollten wissen, dass sie auch zur Rechenschaft gezogen werden könnten, wenn sie bei der Tat nicht sofort gefasst würden.

Als neues Instrument lässt Grote eine Einheit aufstellen, die besonders für Einsätze auf Dächern und in Kellern gerüstet ist. Wohl auch, um Verfehlungen von Beamten besser verfolgen zu können, kündigte er jüngst eine Kennzeichnungspflicht für Polizisten an.

Ein früherer hochrangiger Polizeiführer rügt indes, es gebe intern "nicht im Ansatz das Vorhaben, aufzuarbeiten, was beim G20-Einsatz falsch gelaufen ist". So werde die harte Hamburger Linie nicht einmal diskutiert. Sie bedeute, dass man "bei geringsten Anlässen mit massiven Kräften eingreift". Dadurch trage die Polizei zur Eskalation bei Demonstrationen bei, sagt er.

Die Politik

Olaf Scholz und Andy Grote (r.), im Hintergrund: Polizeichef Ralf Martin Meyer

Olaf Scholz und Andy Grote (r.), im Hintergrund: Polizeichef Ralf Martin Meyer

Foto: Daniel Reinhardt/ dpa

Vergeblich hat die Opposition versucht, Olaf Scholz und den rot-grünen Senat zu stellen. Scholz machte Karriere in Berlin und ist inzwischen der Hamburger Lokalpolitik entrückt. Immerhin musste er zweimal vor dem Sonderausschuss auftreten, um kritische Fragen zu beantworten.

Scholz hatte Ende 2015 Kanzlerin Angela Merkel (CDU) zugesagt, der Gipfel könne in Hamburg stattfinden. Seine Sicherheitsbehörden hatte er zuvor nicht gefragt. Kurz vor Beginn tönte er, die Hamburger würden von G20 kaum etwas merken, das Ganze sei vergleichbar mit einem Hafengeburtstag. Für die Sicherheit garantiere er.

Das war die politische Marschroute, der seine Beamten dann zu folgen hatten - auch wenn einige schon im Vorhinein arge Bauchschmerzen hatten. Bedenken jedoch, so erzählen es Beteiligte, seien weggewischt worden.

CDU-Innenpolitiker Dennis Gladiator wirft Scholz vor, einen "Vertrauensverlust in die politische Führung" bewirkt zu haben. Scholz habe "null Empathie gezeigt für Menschen, die von Gewalt betroffen waren".

Christiane Schneider, innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion, vermisst die Übernahme politischer Verantwortung. "Keiner räumt Fehler ein, indem er sagt, dass man den Gipfel in Hamburg wollte und die Folgen leichtfertig in Kauf genommen hat."

Die Anwohner:

Jüngst lud der Sonderausschuss Anwohner in die Kulturkirche Altona. Klar wurde dabei: Es gibt nach wie vor Unmut darüber, dass die Polizei die Randale zuließ. Auch der tagelange Lärm von Hubschraubern und der Verkehrsgau in der City beschäftigen die Menschen noch - wenn auch die Betroffenheit in der Innenstadt größer sein dürfte als anderswo.

"Bei vielen Hamburgern ist das Grundgefühl geblieben, in einer Gefahrenlage von der Polizei nicht geschützt worden zu sein", sagt Rafael Behr, Professor an der Akademie der Polizei in Hamburg.

Linken-Politikerin Schneider beobachtet gar "eine Spaltung in der Stadt", die geblieben sei. Auf der einen Seite Menschen, die sich über die Polizei beschwerten - auf der anderen Seite Anwohner aus entfernteren Stadtteilen, die das harte Vorgehen der Polizei lobten.

Die Justiz:

Erster G20-Angeklagter im August 2017, die Berufung in dem Fall läuft

Erster G20-Angeklagter im August 2017, die Berufung in dem Fall läuft

Foto: Axel Heimken/ dpa

Bis Ende 2019, so schätzt der Hamburger Generalstaatsanwalt Jörg Fröhlich, dürfte G20 seine Ermittler noch beschäftigen. 687 Ermittlungsverfahren wurden bisher eingeleitet gegen 854 bekannte mutmaßliche Randalierer.

Es gab 160 Anklagen, 59 Strafbefehle, 190 Fälle wurden mangels Tatverdacht eingestellt. Gegen unbekannte Täter leitete die Staatsanwaltschaft 1319 Verfahren ein. In 36 Fällen wurden Randalierer rechtskräftig verurteilt. Polizisten sind in 138 Verfahren Beschuldigte, eine Anklage gab es nicht.

Dass man mit zweierlei Maß messe und bei den Beamten milder sei, weisen die Staatsanwälte zurück. Verfahren gegen Polizisten seien grundsätzlich aufwendiger, weil es oft an Zeugen fehle und in diesen Fällen Gewalt nicht per se strafbar sei.

Die Linksextremen:

Rote Flora

Rote Flora

Foto: Markus Scholz/ dpa

Der Umgang mit ihnen hat eine scharfe politische Debatte entfacht. Hamburg ist eine Hochburg der Linksextremen, ihr Quartier ist die Rote Flora, ein besetztes Kulturzentrum. Wegen der schweren Ausschreitungen gerieten die Einheimischen rasch unter Verdacht, dafür verantwortlich zu sein.

Inzwischen ist die Polizei überzeugt davon, dass Extremisten aus dem Ausland die schwersten Taten begangen haben. Den Initiatoren der Proteste aus der Roten Flora sei die Lage "ein Stück weit aus der Hand geglitten", sagte Soko-Chef Jan Hieber jüngst.

Der Hamburger Ex-RAF-Terrorist Karl-Heinz Dellwo sagte dem SPIEGEL, die Linke habe nichts unter Kontrolle gehabt. Linke hätten einen Raum zur Verfügung gestellt, in dem sich gewaltsamer Protest entladen habe. "In den offenen Raum konnte vieles hineinströmen: der italienische Autonome, der deutsche Linksradikale, der Konsument und Eventtourist, der Bürger mit Angstlust und der Hartz-IV-Empfänger."

Die CDU fordert nach wie vor ein hartes Vorgehen gegen die Rote Flora. "Ohne Unterstützung der lokalen autonomen Szene wäre die terroristische Kommandoaktion an der Elbchaussee nicht möglich gewesen", so Innenpolitiker Gladiator. Der Senat habe vor den Linken der Stadt inzwischen kapituliert - und damit "die Szene gefestigt".

Peter Tschentscher, amtierender Hamburger Bürgermeister, sagte jüngst, die Flora habe den Krawall nicht federführend organisiert. Dennoch sei ihr Verhalten nicht akzeptabel gewesen. Und er kündigte an: "Wenn es aus der Roten Flora heraus Gewalt gibt, dann gehen wir da rein."

Video: G20-Ausschreitungen - Als Hamburg brannte

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