G20-Prozess in Hamburg Mitläufer oder Mittäter?

Polizeieinsatz am Rondenbarg 2017: Anklage gegen 73 G20-Gegner erhoben
Foto: PolizeivideoEs war der Morgen des 7. Juli 2017, der G20-Gipfel in Hamburg hatte noch nicht begonnen. Vom Volksparkstadion aus zogen 150 bis 200 Gipfelgegner in Richtung Innenstadt. Am Rondenbarg, einer Straße im Bahrenfelder Gewerbegebiet, trafen sie auf die Polizei. 14 Steine und vier Böller flogen in Richtung der Beamten, so sieht es die Staatsanwaltschaft.
Um kurz vor halb sieben stürmte die Polizei den Zug und löste ihn gewaltsam auf. Viele der Gipfelgegner versuchten über einen Zaun auf ein Firmengelände zu fliehen. Das Gitter brach aus dem Betonsockel, 14 Menschen verletzten sich teils schwer. Auch deshalb gehört das Geschehen am Rondenbarg zu den umstrittensten Polizeieinsätzen rund um den G20-Gipfel.
Nun müssen sich fünf Teilnehmer des Aufmarschs vor dem Landgericht Hamburg verantworten. Die Vorwürfe: schwerer Landfriedensbruch, tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte, versuchte gefährliche Körperverletzung, Bildung bewaffneter Gruppen, Sachbeschädigung.
Allerdings lassen sich keinem der fünf Angeklagten eigene Gewalttaten zuordnen. Die Staatsanwaltschaft sieht sie allein deshalb als Mittäter, weil sie mitgelaufen sind. Der Aufzug war aus ihrer Sicht keine Demonstration im Sinne des Versammlungsrechts. Doch war er das tatsächlich nicht? Von der Frage hängt vieles ab.
»Unsere Mandanten wollen gar nicht geschützt werden«
Es dürfte ein wegweisendes Urteil werden – zum Umgang mit dem Demonstrationsrecht im Allgemeinen, aber auch für die weiteren Prozesse, die zum Rondenbarg-Komplex noch folgen werden. Acht Anklagen gegen 73 Beteiligte liegen dem Landgericht vor. Teilweise muss es über die Zulassung erst noch entscheiden. Definitiv neu verhandelt wird der Fall des Italieners Fabio V., der bislang einzige Prozess zum Geschehen am Rondenbarg. Die Verhandlung platzte im Februar 2018, weil die Richterin vor Ende der Beweisaufnahme in Mutterschutz ging.
Auch das jetzige Verfahren läuft anders als geplant. Eigentlich hätte gleich 19 Gipfelgegnern der Prozess gemacht werden sollen. Doch wegen der Corona-Beschränkungen hat das Gericht die Verfahren gegen die jüngsten Beteiligten abgetrennt: Alle fünf, darunter drei Frauen und zwei Männer, waren damals noch minderjährig. Daher findet der Prozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt – zum Schutz der Angeklagten, so sieht es die Strafprozessordnung vor.
Thomas Fischer, Strafverteidiger aus Stuttgart, kann daran nichts ändern, auch wenn er gern würde. Er sagt: »Unsere Mandanten wollen gar nicht geschützt werden.« Der junge Mann, den Fischer verteidigt, ist mittlerweile um die 20. Aus Fischers Sicht ist er unschuldig.
Stahlseile, Hämmer und Feuerlöscher
Im Gespräch mit dem SPIEGEL zitiert der Anwalt zunächst den Landfriedensbruch-Paragrafen, wie er bis 1970 im Strafgesetzbuch stand. Damals hieß es, wenn sich eine Menschenmenge »öffentlich zusammenrotte« und mit vereinten Kräften gegen Personen oder Sachen Gewalttätigkeiten begehe, so werde »jeder, welcher an dieser Zusammenrottung teilnimmt, wegen Landfriedensbruchs (…) bestraft.«
Dann kam eine große Strafrechtsreform – und mit ihr die sogenannte Demonstrationsnovelle. Seither gelte, so Fischer, dass sich derjenige, der sich strafbar macht, selbst an Gewalttaten oder Bedrohungen beteiligt haben muss.
Aus Sicht der Staatsanwaltschaft trifft jedoch genau das zu. Sie wirft den Angeklagten psychische Beihilfe vor. Von der Bewaffnung mit Steinen und Pyrotechnik hätten sie gewusst, und deren Einsatz gegen Polizisten und Sachen hätten sie gebilligt. Durch das gemeinsame Auftreten, überwiegend in Schwarz gekleidet, hätten sie den einzelnen Gewalttätern das Gefühl von Sicherheit und Stärke vermittelt. Insgesamt fand die Polizei 38 Steine, drei Stahlseile, zwei Hämmer, einen Feuerlöscher und eine Zwille.
In der Anklage stütze sich die Staatsanwaltschaft auf zwei Entscheidungen des Hanseatischen Oberlandesgerichts, erklärt die Sprecherin Nana Frombach. Das OLG hatte über Haftbeschwerden anderer Rondenbarg-Verdächtiger zu entscheiden. Dabei hatte es einen dringenden Tatverdacht jeweils bejaht, unter anderem wegen schweren Landfriedensbruchs – und das obwohl auch diesen Beschuldigten keine eigenhändigen Gewalttaten nachzuweisen waren.
Die Staatsanwaltschaft bezieht sich zudem auf ein Urteil des Bundesgerichtshofes aus dem Mai 2017. Ein »ostentatives Mitmarschieren« zum Ort der Begehung von Gewalttätigkeiten reicht demnach aus, um wegen Landfriedensbruchs verurteilt zu werden. Allein: Damals ging es um Hooligans. Verhandelt wurde über eine verabredete Schlägerei zweier Fangruppen in Köln. Lässt sich das eins zu eins übertragen?
Das hängt vor allem mit der Frage zusammen, ob der Aufzug als Demonstration zu werten ist oder nicht. Auch die BGH-Richter betonten in ihrer Entscheidung, es gebe einen Unterschied zu »Fällen des Demonstrationsstrafrechts, bei denen aus einer Ansammlung einer Vielzahl von Menschen heraus Gewalttätigkeiten begangen werden, aber nicht alle Personen Gewalt anwenden oder dies unterstützen wollen«.
Oberstaatsanwältin Frombach sagt, entscheidend sei die Einstufung einer Personengruppe als geschlossen gewaltorientierte Formation. Um eine Versammlung im Sinne des Grundgesetzes handle es sich beim Aufmarsch am Rondenbarg nach Auffassung der Staatsanwaltschaft nicht.
Verteidiger Fischer sieht das anders. Hooligans könnten sich natürlich nicht auf das Demonstrationsrecht berufen. Die Gipfelgegner vom Rondenbarg aber sehr wohl, denn sie hätten sich zu einer Spontanversammlung zusammengetan, meint Fischer. Und die Polizei hätte die Versammlung zunächst förmlich auflösen müssen. Das ist nicht passiert.
Fischer sagt, die Annahme, alle Teilnehmer hätten von vornherein nur Gewalt ausüben wollen, sei ein Konstrukt der Staatsanwaltschaft. Ein Konstrukt, mit dem sie zum alten Demonstrationsrecht zurückkehren wolle. »Die versuchen, das Rad um 50 Jahre zurückzudrehen«, sagt er. »In das Rad müssen und werden wir eingreifen.«
In der linken Szene macht man sich derweil für Proteste bereit. Nach Angaben der Hamburger Polizei hat eine Privatperson für diesen Donnerstag eine Versammlung vor dem Gericht angemeldet – und zur »Solidarität mit allen G20-Gefangenen, auch mit den Unschuldigen« aufgerufen. Die Veranstalter rechnen mit 250 Teilnehmern. Für Samstagnachmittag plant das Bündnis »Gemeinschaftlicher Widerstand« einen Aufzug durch die Innenstadt mit 1000 Teilnehmern.
Zudem rechnet die Polizei mit Spontankundgebungen und Eilversammlungen, wie eine Sprecherin erklärt. Sachbeschädigungen, etwa Graffiti oder brennende Fahrzeuge, könne man in dem Zusammenhang nicht ausschließen.