LKA-Studie Immer mehr Polizisten im Dienst verletzt

Die Spirale der Gewalt dreht sich immer schneller: In Nordrhein-Westfalen hat sich die Zahl der im Dienst verletzten Polizisten binnen eines Jahres um fast zehn Prozent erhöht. Das geht nach SPIEGEL-ONLINE-Informationen aus einem vertraulichen Lagebild des Landeskriminalamts hervor.
Polizisten in Bonn: "Stärke zeigen ist nicht mehr möglich"

Polizisten in Bonn: "Stärke zeigen ist nicht mehr möglich"

Foto: Federico Gambarini/ picture alliance / dpa

Die Attacke schien sorgsam vorbereitet. Die Männer, viele mit Bart und Turban, hatten Tüten mit Steinen dabei, als sie am Dienstag in Solingen auf Bereitschaftspolizisten losgingen. Etwa 60 Salafisten versuchten mit Gewalt eine Sperre zu durchbrechen, um Aktivisten der rechten Splitterpartei Pro NRW zu attackieren. Die Ordnungshüter mussten Pfefferspray und Schlagstöcke einsetzen und am Ende 44 Personen festnehmen. Dabei wurden drei Beamte verletzt.

Wieder einmal.

Ein neues Lagebild des nordrhein-westfälischen Landeskriminalamts ("VS - Nur für den Dienstgebrauch") kommt nämlich zu dem erschreckenden Ergebnis, dass die Zahl der im Dienst verletzten Polizisten im Vergleich zum Vorjahr um acht Prozent auf etwa 1900 gestiegen ist. Insgesamt wurden 2011 circa 9800 Beamte angegriffen. Die Zahl der identifizierten Tatverdächtigen beläuft sich auf rund 6000.

Seit Jahren steigt die Zahl der verbalen und handfesten Attacken auf Polizisten. Immer häufiger sind es dabei alltägliche Situationen, die eskalieren: So wollte ein Kriminalhauptkommissar aus Mönchengladbach im vergangenen August lediglich die Ausweise einer Gruppe junger Leute kontrollieren, als ihm ein 20-Jähriger unvermittelt gegen den Kopf trat. Der Beamte erlitt schwere Gesichts- und Schädelverletzungen.

"Die Brutalität, mit der sich die Kollegen inzwischen fast täglich konfrontiert sehen, hat sich dramatisch erhöht", sagt Erich Rettinghaus, der nordrhein-westfälische Landesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG). Es werde häufig gar nicht mehr versucht, Streitfragen verbal zu lösen, sondern sofort geschlagen und getreten.

Nach der Untersuchung entstehen die Konflikte zu fast 90 Prozent im Alltag der Beamten und betreffen zu 83 Prozent Streifenpolizisten. Häufig agieren die Täter aus einer Gruppe heraus, fast immer sind sie betrunken oder stehen unter dem Einfluss von Drogen. Als besonders gefährlich erweisen sich dabei soziale Brennpunkte und Vergnügungsviertel.

"Die Gewaltspirale dreht sich immer schneller"

"Je später die Nacht", schrieb ein Beamter aus Düsseldorf vor geraumer Zeit seinem Vorgesetzten, "desto größer der Wahnsinn." Der Brief war ein Hilferuf eines erfahrenen Dienstgruppenleiters, ein Zeugnis der voranschreitenden gesellschaftlichen Verwahrlosung ebenso sehr wie der zunehmenden Überforderung der Polizei.

"Die Gewaltspirale dreht sich immer schneller", notierte der Beamte, das "erträgliche Maß" sei längst überschritten. Seine Untergebenen würden inzwischen regelmäßig "geschlagen, getreten und mit Flaschen beworfen", zudem bespuckt, beleidigt und mit dem Tode bedroht.

Die vermeintlichen Ordnungshüter seien längst "zu Statisten des Sauf- und Erlebnistourismus degradiert" worden, mit denen man sich ungestraft anlegen könne. Gerade unter "jungen Migranten" sei es angesagt, am Wochenende "Bullen aufzumischen". Respekt vor Amtspersonen: Fehlanzeige. In der allgemeinen Hektik einer solchen Situation - nicht selten stünden den Beamten Hunderte gegenüber - könnten die meisten Angreifer sogar noch "ungestraft das Weite suchen".

In Stadtteilen wie Berlin-Wedding oder Duisburg-Marxloh ist es schon fast zum Volkssport geworden, Polizisten zu drangsalieren. Dort sind es meist junge Männer, die Recht und Gesetz für sich beanspruchen. Streifenwagen werden aus dem Hinterhalt mit Steinen und Glasflaschen beworfen, einfache Einsätze bei Parkverstößen und Ruhestörungen können zu Großlagen ausarten, weil die Beamten eingekesselt werden.

"Die Justiz muss endlich aufwachen und das Strafmaß bei diesen Delikten ausschöpfen und zeitnah durchgreifen", sagt Polizeigewerkschafter Rettinghaus. In der Realität aber würde die Schuld für die Gewalt hinterher oft den Beamten zugeschrieben, die die Situation angeblich hätten eskalieren lassen. Und der eigentliche Aggressor zeige dann häufig auch noch die Polizisten an und verlange möglicherweise Schadensersatz. Zudem würden die Kollegen von ihren Vorgesetzten mit diesen Belastungen oft völlig allein gelassen. "Das ist einfach nur noch absurd", empört sich der DPolG-Landesvorsitzende.

Die zunehmende Gewaltbereitschaft tritt nämlich zusätzlich auf eine vielfach überforderte Polizei. So schrieb ein Duisburger Wachdienstleiter vor einiger Zeit einen markigen Brief an seine Polizeipräsidentin. Darin heißt es: "Stärke zeigen ist nicht möglich. Situationen in Bereichen mit hohem Migrantenanteil entgleiten immer mehr." Denn dort werde die Polizei insbesondere von den Jugendlichen nicht akzeptiert. Das Risiko für die Beamten, angegriffen zu werden, steige auch deshalb, weil wegen der "katastrophalen Personalsituation" immer mit einem Minimum an Kräften gearbeitet werden müsse.

Der Polizeihauptkommissar schloss mit den mahnenden Worten: "Die Grenzen der körperlichen Belastung sind bei vielen Kollegen erreicht." Und: "Zeitnahe Veränderungen sind dringend notwendig."

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten