Gewaltexzess in Erfurt "Wir haben ihr Abartiges angetan"

Sie folterten eine junge Frau zu Tode, setzten die Leiche in einen Liegestuhl: Der minderjährige Oliver W. und sein Komplize Mario O. wurden wegen Mordes verurteilt. Jetzt muss der Prozess gegen W. neu aufgerollt werden - wegen einer Justizpanne.

Hamburg - Die Leiche saß in einem Liegestuhl im Hinterhof eines Erfurter Mehrfamilienhauses. Man hätte die Tote für eine Puppe halten können, wären da nicht die Anzeichen der Folter gewesen, die Claudia M. vor ihrem Ende hatte erleiden müssen: Hämatome überall, schwerste Kopfverletzungen.

Wie es zu dem brutalen Verbrechen im November 2006 kam, wie es ausgeführt wurde, muss nun erneut vor dem Landgericht Erfurt verhandelt werden. Einer der beiden Täter, der damals 16-jährige Oliver W., steht ab Montag abermals wegen Mordes an der 25-jährigen Claudia M. vor Gericht.

Er war nach Jugendstrafrecht zu neun Jahren und neun Monaten verurteilt worden, knapp unter der Höchststrafe von zehn Jahren. Seine Anwälte legten gegen das Urteil Revision ein - und der Bundesgerichtshof entschied: Der Fall muss neu verhandelt werden. Der Mutter des Jugendlichen sei kein "letztes Wort" eingeräumt worden, heißt es in der anderthalbseitigen Begründung.

"Im Jugendrecht muss nicht nur dem Angeklagten, sondern auch dem Erziehungsberechtigten die Gelegenheit auf das letzte Wort gegeben werden", sagt Ulrich Drews, Sprecher des Erfurter Landgerichts, SPIEGEL ONLINE. Oliver W.s Mutter war diese Möglichkeit im Verfahren jedoch tatsächlich nicht gegeben worden. "Es handelt sich um einen Formfehler, der da unterlaufen ist - und schon das reicht für einen neuen Prozess", sagt Drews.

Die Verteidigerin des Jugendlichen will die Dinge differenzierter sehen. Ein solcher Verfahrensverstoß führe "nur ausnahmsweise" zur kompletten Aufhebung des Urteils, sagt Rechtsanwältin Stefanie Ernst aus Erfurt SPIEGEL ONLINE. Vielmehr sei die Urteilsbegründung in sich widersprüchlich: "Dieser Fall ist atypisch."

Rückblende: Mario O., zur Tatzeit 26, und sein zehn Jahre jüngerer Kumpane Oliver W. lernen am 3. November 2006 Claudia M. kennen. Sie bestellen sie einen Tag später in die Wohnung des Älteren. Sie sei "leicht zu verprügeln und gut zu quälen" gewesen, soll Mario O. später erzählt haben.

Die widerlichen Details muss der Anwalt verlesen

Gemeinsam fallen die beiden Männer über die 25-Jährige her, vergewaltigen sie immer wieder auf unvorstellbare Weise, leben an ihr ihre sadistischen Phantasien aus.

Claudia M. muss fürchterliche Qualen erleiden. Mario O. und Oliver W. missbrauchen sie sexuell mit verschiedenen Gegenständen. Ermittler sichern später in diesem Zusammenhang eine zerbrochene Toilettenbürste, eine Nähnadel, eine Weinflasche und Blutspuren an den Wänden. Die Täter entmenschlichen Claudia M., rauben ihr jede Würde.

In seinem späteren Geständnis wird Mario O. zugeben, dass er und Oliver W. der jungen Frau "Abartiges" angetan hätten. Der Mann mit den tätowierten Händen bekundet Scham. Seinen Verteidiger lässt er die grausamen Details der Tat verlesen.

Stundenlang prügeln und treten Mario O. und Oliver W. in jener Nacht auf die schutzlose Frau ein, bis Claudia M. das Bewusstsein verliert. Erst dann lassen die beiden Männer von ihr ab. Sie verlassen die Wohnung, die Verletzte bleibt in der ihr fremden Umgebung zurück, heißt es in der Urteilsbegründung.

Die junge Frau stirbt schließlich an den Folgen massiver Tritte gegen den Kopf. Die Verletzungen hätten in ihrer Gesamtheit zu einem langsamen Versagen der Gehirnfunktion geführt, so dass nach mehreren Stunden der Tod eingetreten sei, erklärt die Staatsanwaltschaft.

Die Polizei kommt ins Haus - doch die Tat bleibt unentdeckt

Erst drei Tage später will Mario O. in seine Wohnung zurückkehrt sein und die Leiche entdeckt haben. Er schultert den leblosen Körper, trägt die Tote ins Freie und setzt sie im Hinterhof eines benachbarten Mehrfamilienhauses in einen Liegestuhl. Dann kehrt er in seine Wohnung zurück.

Im ersten Prozess hatten beide Angeklagten versucht, sich mit ihrem Alkohol- und Drogenkonsum herauszureden. Sachverständige bescheinigten beiden jedoch absolute Schuldfähigkeit: Ihre Steuerungsfähigkeit sei nicht so weit eingeschränkt gewesen, dass sie nicht hätten einordnen können, was sie taten.

Im Gegenteil: Als die Polizei ins Haus kam, nachdem sich Nachbarn wegen des Lärms beschwert hatten, verhielten sich Mario O. und Oliver W. mucksmäuschenstill.

Die Nachbarn hatten den Lärm damals in der falschen Wohnung vermutet - die Beamten zogen wieder ab. Claudia M.s Tortur blieb unentdeckt. Die Kammer unter dem Vorsitz von Richter Holger Pröbstel machte den Polizisten keinen Vorwurf.

Die Tat zeige den Zustand einer Gesellschaft, an deren ausgefransten Rändern der gewaltsame Tod offenbar ein normales Lebensrisiko geworden sei, sagte der Vorsitzende der Jugendkammer zum Ende des ersten Prozesses.

Oliver W. beteuert seine Unschuld und hofft auf Freiheit

Bis zum Schluss beharrte Oliver W. jedoch darauf, dass sein Freund Mario O. die alleinige Schuld trage. "Er hält sich für unschuldig und will die Wohnung zwischen 3 und 4 Uhr morgens allein verlassen haben", sagt seine Anwältin. Zu diesem Zeitpunkt sei es dem Opfer "noch gut gegangen". Ihr Mandant hoffe auf Freispruch.

Die Chancen dafür stehen nicht schlecht. Oliver W.s Verteidigung will sich im neuen Verfahren auf den Dreh- und Angelpunkt des Falles konzentrieren: Es gibt Zeugen, die Claudia M. am Tag nach der Gewaltorgie zwischen 11 und 13 Uhr auf der Straße gesehen haben wollen.

33 Zeugen und Sachverständige müssen nun noch einmal gehört werden, bis die 6. Strafkammer des Erfurter Landgerichts urteilen könne, sagt Gerichtssprecher Drews.

Allerdings wird nur im Fall des damals 16-Jährigen neu verhandelt. Das Verfahren gegen dessen Komplizen ist und bleibt unberührt: Die Kammer hat Mario O. zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt, was die Staatsanwaltschaft schon in der Anklageschrift gefordert hatte - und Mario O. hat keine Revision eingelegt. Im neuen Prozess wird er folglich nur als Zeuge auftreten.

Bis Anfang Dezember sind 15 Verhandlungstage angesetzt. Die Hoffnung des minderjährigen Oliver W., in diesem komplett neuen Verfahren seine Unschuld zu beweisen, sei groß, sagt Rechtsanwältin Ernst. "Er würde gern Weihnachten in Freiheit verbringen."

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