Vorwurf der richterlichen Willkür Eine Patientin kämpft gegen die Ohnmacht

Lisa Hase klagte gegen ihre Zahnärzte, als die Richter plötzlich an ihrem Geisteszustand zweifelten. Reine Willkür, behauptet die 62-Jährige. Nun attackiert sie die Justiz - mit starken Argumenten.
Psychotherapeutin Lisa Hase

Psychotherapeutin Lisa Hase

Foto: privat

Wer Lisa Hase gegenübersitzt, der merkt, dass irgendetwas nicht stimmt. Zähne fehlen ihr, links hinten, rechts hinten, zwei halbe Reihen im Oberkiefer. Die Zähne sind die Ursache dafür, dass Lisa Hase kämpft, seit Jahren kämpft, gegen Zahnärzte und auch gegen die Justiz . Gegen Willkür, wie sie sagt, von Richtern.

Die 62-Jährige, rote Haare, grauer Pullover, Jeans, sitzt an einem schlichten Holztisch in ihrer Praxis in Göttingen. Kinderpsychotherapie. In den Regalen Kasperlepuppen, ein Angelspiel, "Vier gewinnt". Auf dem Tisch drei Aktenordner, darin Papiere in Klarsichtfolien, Hunderte Seiten Gerichtsakten, Gutachten, Briefe. Vieles davon hat sie ins Internet  gestellt.

Ihr Fall sei ein "kafkaesker Albtraum", der jeden treffen könne, behauptet sie. Das Landgericht Göttingen, so sieht sie das, "wollte mich für verrückt erklären". Sie hält sich für ein Justizopfer. Und will nun erreichen, dass die Richter zur Verantwortung gezogen werden.

Umstrittener Beweisbeschluss aus 2009

Im Jahr 2004 reichte Lisa Hase beim Landgericht Göttingen eine erste Klage auf Schadensersatz gegen mehrere Zahnärzte ein, vier Jahre darauf eine zweite. Die Verfahren sind bis heute nicht entschieden. Es geht um mutmaßliche Behandlungsfehler , Hase hatte Schmerzen, konnte nicht mehr arbeiten.

Mitten im Verfahren geschah das, was Lisa Hase für einen Skandal hält. Ende 2009 fasste die zuständige Kammer den Beschluss: Ein Psychiater solle untersuchen, ob die Klägerin überhaupt prozessfähig sei, sprich: ob da nicht eine geisteskranke Querulantin wirbelte.

Das hätte nie passieren dürfen, sagt Juraprofessor Martin Schwab von der Universität Bielefeld, der zu Fehlentscheidungen deutscher Gerichte forscht. "Der Beschluss für das Gutachten war klar rechtswidrig." Es bleibe der Verdacht, "dass Frau Hase mundtot gemacht werden sollte". Wer prozessunfähig ist, kann auch keine Klage durchfechten.

Belegen lassen sich die unterstellten Beweggründe nicht. Das Landgericht Göttingen wollte wegen der richterlichen Unabhängigkeit Fragen zum Fall nicht beantworten. Die Richter hielten 2009 in ihrem Beschluss fest, Hase habe elf Zahnärzte und eine Klinik verklagt, zwischen 2003 und 2005 insgesamt 30 Zahnärzte aufgesucht.

Bis 2006 sei sie in psychotherapeutischer Behandlung gewesen, habe lange Zeit starke Schmerzmittel konsumiert, einen Nervenzusammenbruch erlitten. Es lägen zwei psychotherapeutische Gutachten vor. All das sei "Indiz für eine Erkrankung".

Juraprofessor Schwab hat den Beschluss der Göttinger Richter in einer umfangreichen Stellungnahme 2015 zerpflückt. Er weist daraufhin, dass eine psychiatrische Begutachtung einen Eingriff in Grundrechte darstellt und deshalb an rechtliche Anforderungen geknüpft ist. Im Fall Hase seien die vom Gericht aufgeführten Anhaltspunkte "nicht tragfähig" und stünden zum Teil "sogar im Widerspruch zur Aktenlage".

Die Klägerin greift zu einem Trick

Die Tatsache, dass Hase mehrere Zahnärzte verklagte, sei nach geltender Rechtsprechung kein Anlass für Zweifel an ihrem Geisteszustand. Ebenso wenig die Tatsache, dass sie in psychotherapeutischer Behandlung war. Zumal ein Gutachten klar festhalte, dass der Anlass für die Behandlung die permanenten Zahnschmerzen gewesen seien.

Zugleich attackiert Schwab das Oberlandesgericht Braunschweig. Dort war ein Befangenheitsantrag Hases gegen ihre Richter abgelehnt worden. Auch diese Entscheidung nennt Schwab "in krasser Weise fehlerhaft".

Hase gelang es damals, den Plan der Göttinger Kammer mit einem Trick zu torpedieren. Als Frau vom Fach "habe ich besondere Voraussetzungen, mich zu wehren", sagt sie. Sie beantragte Betreuung für sich beim Amtsgericht - in der Hoffnung, dass der Antrag nicht bewilligt würde. In einem solchen Verfahren, das wusste Hase, würde sie nicht der vorgesehene Gutachter untersuchen, von dem sie ein Gefälligkeitsgutachten im Sinne der Richter erwartete.

Und genauso kam es.

Eine Psychiaterin und ein städtischer Bediensteter stellten fest: Bis auf die Zähne sei Lisa Hase vollkommen gesund. Nun rückten die Richter im ursprünglichen Klageverfahren von ihrem Beweisbeschluss ab und verzichteten auf ein eigenes Gutachten.

Inzwischen beschäftigt der Fall den Landtag in Niedersachsen. Lisa Hase hat seit 2014 zwei Petitionen eingereicht, darin dringt sie zum Beispiel darauf, dass Justizministerin Antje Niewisch-Lennartz (Grüne) disziplinarische Schritte gegen die damaligen Göttinger Richter einleitet. Und "Machtmissbrauch" von Richtern künftig verhindert.

Landtag nimmt Petition "sehr ernst"

Der zuständige Ausschuss tut sich schwer mit dem Fall, er hat ihn mehrfach vertagt, inzwischen auf Ende April. Jetzt sollen Experten gehört werden, auch Juraprofessor Schwab. Ein Mitglied im Ausschuss sagte SPIEGEL ONLINE, in der Petition seien Kritikpunkte aufgelistet, "bei denen man denkt: 'Das kann doch nicht wahr sein'". Man nehme die Petition sehr ernst.

Offiziell äußert sich der Landtag nicht, Petitionen sind stets vertraulich. Was am Ende dabei herauskommt, ist schwer absehbar. Politiker können wegen der staatlichen Gewaltenteilung richterliche Entscheidungen nicht korrigieren. Und: "Allein die Tatsache, dass Richter falsch entscheiden, rechtfertigt kein Disziplinarverfahren", räumt Jurist Schwab ein.

Lisa Hase weiß um die Probleme. Es geht ihr darum, dass der Fall nicht einfach unter den Tisch fällt. Anfang des Jahres bekam sie ein Schreiben aus dem Justizministerium. Darin heißt es: Man sehe keinen Anhaltspunkt für Rechtsmissbrauch der Richter. Dass die Kammer nach der abgelehnten Betreuung auf das ursprünglich geplante Gutachten verzichtet habe, "spricht doch gegen eine (…) willkürliche Behandlung".

Wenn Lisa Hase das liest, muss sie lachen. Es ist ein breites, offenes Lachen, trotz fehlender Zähne. Das Lachen hat Lisa Hase nicht verloren.

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