Anschlag von Halle Die wirre Welt des Attentäters

Neue Indizien im Fall des Anschlags von Halle zeigen: Der Rechtsextremist Stephan Balliet bereitete seine Bluttat seit Monaten vor. Eine Spurensuche.
Trauer nach der Attacke: Eine Frau legt Blumen vor der Synagoge in Halle nieder

Trauer nach der Attacke: Eine Frau legt Blumen vor der Synagoge in Halle nieder

Foto: FILIP SINGER/ EPA-EFE/ REX

Den Hinweis auf seinen bevorstehenden Anschlag postete Stephan Balliet am Mittwoch um 11.57 Uhr - wenige Minuten bevor er die Synagoge im Hallenser Paulusviertel zu stürmen versuchte. Das Forum, das er für seine Ankündigung benutzte (Meguca), ist ein sogenanntes Imageboard aus dem Dunstkreis der berüchtigten chan-Foren - inzwischen ist es aus dem Netz verschwunden. Auf solchen Boards können User Bilder und zynische Witze austauchen und ultraradikale Ansichten anonym posten. Die Inhalte reichen bis hin zu Gewaltaufrufen gegen Juden, Muslime, Migranten und Frauen.

Er habe in den letzten Jahren Waffen hergestellt, mit Hilfe eines 3D-Druckers, schrieb Balliet dort. Wer wolle, könne ihn jetzt bei einem "Live-Test" beobachten. Es folgte ein Link zu seinem Attentatsvideo, aufgenommen per Handy, übertragen via Twitch. Auf dieser Seite wiederum, die zum Amazon-Konzern gehört, zeigen sich überwiegend Computerspieler live beim Zocken.

Bezüge zur rechtsextremen Alt-Right-Bewegung

Auch ein von Balliet veröffentlichtes Pamphlet ist voller Vokabeln aus der Gamerszene. Er spricht von "Achievements", die er erreichen will. Der Begriff bezeichnet in Videospielen bestimmte Ziele, für deren Erreichen Spieler digitale Trophäen erhalten. Bei Balliet beziehen sich die anvisierten "Achievements" allerdings auf grausame Gewalttaten, ein Ziel lautet zum Beispiel: "Töte jemanden mit einer Nagelbombe."

Gleichzeitig bezieht sich Balliet auf die rechtsextreme Alt-Right-Bewegung. Auf einem Foto, das er ins Internet stellte, trägt er eine Mütze mit einem "Moon Man"-Button  - ein Bild, das seit Jahren als sogenanntes Meme in Alt-Right-Foren verbreitet und mit rassistischen Sprüchen versehen wird.

Dem Foto von sich hat Balliet den Dateinamen "the face of a neet" gegeben. "Neet" ist die englische Abkürzung für junge Erwachsene, die weder in Ausbildung sind noch einer Arbeit nachgehen.

Nach allem, was man bislang weiß, war Stephan Balliet ein Einzelgänger und Eigenbrötler. Ein Scheidungskind, das schon in seiner frühen Jugend Schach spielte und sich für Chemie interessierte. Sein Abitur machte er im Jahr 2010 am Martin-Luther-Gymnasium in Eisleben. Ein "unauffälliger" Schüler war er, wie Schulleiter Jörg Goldbach am Telefon sagt. Danach leistete er seinen Grundwehrdienst bei der Bundeswehr ab.

"Ich wollte es nicht wahrhaben"

Ein Studium, das er nach Angaben seines Anwalts im Alter von 22 Jahren begonnen hatte, soll er nach wenigen Semestern aufgrund gesundheitlicher Probleme wieder abgebrochen haben. Demnach studierte er zunächst ein bis zwei Semester "Molekulare und strukturelle Produktgestaltung", ein Zweig des Chemieingenieurswesens, anschließend ein bis zwei Semester Chemie in Halle.

Schuld an eigenen Misserfolgen habe er nach übereinstimmenden Aussagen von Personen aus seinem Umfeld bei anderen gesucht. Eine Arbeit hatte Stephan Balliet wohl nicht. Wie sein Anwalt dem SPIEGEL sagte, war der Attentäter erwerbslos. Er soll hauptsächlich vom Geld seiner Mutter gelebt haben.

An den verschwörungstheoretischen Imageboards, in denen er sich offenbar immer weiter radikalisiert hatte, schätzte er nach Angaben seines Anwalts vor allem die "absolute Anonymität".

Wenige Stunden, nachdem ihr Sohn zwei Menschen ermordet hat, sitzt die Mutter des Attentäters an einem großen Tisch in ihrem Wohnzimmer. Es ist der Mittwochnachmittag der vergangenen Woche. Im Fernsehen laufen gerade die Bilder ihres Sohnes, wie er in Kampfmontur auf Polizisten schießt. "Ich wollte es nicht wahrhaben. Aber man sieht ja den Bewegungsablauf. Man kennt ja seine Leute", sagt die Frau Reportern von SPIEGEL TV.

Nervös raucht sie eine Zigarette nach der anderen. Am Abend vor dem Anschlag habe ihr Sohn ihr noch beim Bügeln geholfen. "Mein Sohn ist das sensibelste Wesen, was Sie sich nur vorstellen können", sagt sie. Er lebte im Zimmer nebenan, dessen Tür stets verschlossen war. Sein "Reich" sei das gewesen, dort habe er seine "Privatsphäre" gehabt. Verbotene Waffen seien ihr nie aufgefallen. Manchmal habe ihr Sohn aber so Sachen gesagt wie: "Der weiße Mann zählt nichts mehr". Er sei schwer krank gewesen, er habe operiert werden müssen, berichtet sie.

Mit Anfang zwanzig habe ihr Sohn mit Drogen experimentiert - und es beinahe nicht überlebt.

Ausbildung an der Waffe bei der Bundeswehr

Danach, so die Mutter, sei er ein anderer Mensch gewesen. Seinen Antisemitismus beschreibt sie so: "Er hat nichts gegen Juden in dem Sinne. Er hat was gegen die Leute, die hinter der finanziellen Macht stehen - wer hat das nicht?"

Den Umgang mit Waffen lernte Stephan Balliet bei der Bundeswehr. Als 18-Jähriger leistete er seinen sechsmonatigen Wehrdienst beim Panzergrenadierbattaillon 401 in Hagenow (Mecklenburg-Vorpommern). Dort wurde er etwa am Sturmgewehr G36 und an der Pistole P8 geschult. Hinweise auf eine rechte Gesinnung finden sich in seiner Bundeswehrakte nicht.

Die Ermittler gehen davon aus, dass er bis auf eine alle Waffen selbst hergestellt hat. Womöglich kam dabei auch ein 3D-Drucker zum Einsatz, der inzwischen beschlagnahmt wurde.

Vieles deutet darauf hin, dass er seine Tat schon seit geraumer Zeit geplant hat: Wie die Metadaten von Fotos zeigen, die Balliet ins Internet stellte, stellte er eine der Waffen wohl bereits im März fertig. Auch sein Samsung-Smartphone, mit dem er den Anschlag übertrug, beschaffte er sich laut "Zeit Online" bereits im Juli.

Die Waffenproduktion will er nach Angaben seines Anwalts mit einfachen Mitteln und wenig Geld bewerkstelligt haben. So habe er Stahl im Wert von 50 Euro eingekauft, ein Fernrohr für 20 Euro und tausend Patronenhülsen für 25 Euro.

Auch die Munition für seine selbstgebaute Flinte stellte Balliet offenkundig selbst her. Als Geschosse soll er unter anderem Geldstücke verwendet haben, die er teils mit einem Hakenkreuz versah. Die Hülsen beschriftete er bisweilen mit Worten wie "Hologauge" - einer Mischung aus dem Wort Holocaust und dem Englischen Ausdruck für Kaliber.

Mit der Durchsuchung seines Zimmers hatte der Attentäter wohl gerechnet. Die Ermittler fanden dort - außer einer Festplatte - zunächst keine relevanten Beweismittel. Stattdessen stießen sie auf mehrere Zettel, die Balliet versteckt hatte, offenbar um die Fahnder zu verhöhnen. Sie waren mit dem Wort "Niete" beschriftet.

Hinweis: Mehr zum Thema heute Abend bei SPIEGEL TV um 23:25 Uhr auf RTL

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