Prozess gegen SS-Wachmann "War es wirklich so schlimm?" - "Nein. Schlimmer"

Gunnar Solberg mit seinem Anwalt
Foto: DANIEL REINHARDT/ AFPAn diesem Tag, vor genau 75 Jahren, bei Schneesturm und eisiger Kälte, zwangen die Nationalsozialisten Johan Solberg aus Norwegen zum Todesmarsch. Die Monate zuvor in Baracke Nummer 5 des Konzentrationslagers Stutthof bei Danzig hatten dem damals 22-Jährigen zugesetzt, ihn geschwächt, ihn fast gebrochen.
Johan Solberg überlebte. Er wohnt heute in Vikersund bei Oslo, er ist 97 Jahre alt und liegt zurzeit im Krankenhaus. Die Ärzte sagen, er sei zu krank, um nach Deutschland zu reisen. Johan Solberg wollte im Prozess gegen den SS-Wachmann Bruno D. vor dem Landgericht Hamburg als Zeuge aussagen.
Bruno D., 93 Jahre alt, stand von August 1944 bis April 1945 als SS-Wachmann auf einem der Türme des KZ Stutthof, in dem die Nazis mehr als 100.000 Juden und politische Gegner gefangen hielten, 65.000 von ihnen wurden dort ermordet. Bruno D. ist angeklagt wegen Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen.
"Süßlicher Rauchgeruch"
So betreten an diesem Tag der Sohn und die Tochter Johan Solbergs Saal 300 des Landgerichts Hamburg, um ihrem Vater eine Stimme zu geben.
50 Jahre hat Johan Solberg gebraucht, um überhaupt über das zu sprechen, was er im KZ Stutthof erlebt hat. So berichtet es sein Sohn, er ist 66 Jahre alt. Johan Solberg hatte sich einer Widerstandsbewegung angeschlossen, die in Norwegen gegen die deutschen Besatzer kämpfte. Mit 44 Männern und 18 Frauen brachte man ihn nach seiner Festnahme mit dem Schiff von Oslo nach Danzig. Am 10. August 1944 kam er in Stutthof an.

Der Angeklagte Bruno D. vor Gericht
Foto: Christian Charisius/AFPDie Kinder Solbergs haben eine Erklärung mitgebracht, verfasst vom Vater, die die Vorsitzende Richterin vorträgt. Ein erstes schreckliches Bild, das Johan Solberg demnach nicht vergessen hat: Etwa 15 abgemagerte Leichen liegen vor einer Baracke; ein Mann reißt aus ihren Gebissen die Goldzähne. Er erinnere sich noch heute an den "süßlichen Rauchgeruch", der über dem Lager schwebte. Es ist eine wichtige Aussage in diesem Verfahren, denn Bruno D. bestreitet, dass man den Massenmord riechen konnte .
"Alle wussten, wohin es ging."
Die 32 Baracken auf dem Lagergelände seien so konzipiert gewesen, dass in jeder rund 300 Gefangene Platz haben sollten. Tatsächlich habe man mehr als 1000 in jede Baracke gepfercht, in denen für jüdische Gefangene sei es noch extremer gewesen. Er habe jeden Tag Hunderte von Menschen gesehen, wie sie zur Gaskammer geführt wurden, teilt Johan Solberg mit. Viele hätten geweint. "Alle wussten, wohin es ging."
Die Norweger, die als "politische Gefangene" geführt wurden, hätten Glück gehabt: Ein Lagerkommandant, der in Norwegen eingesetzt war, gestattete ihnen, Pakete von zu Hause zu empfangen; ihnen wurden die Köpfe nicht kahl geschoren.
Die Wahrheit ist unerzählbar
Vergessen habe er nicht, wie alle Gefangenen antreten mussten, wenn einer bestraft wurde. Elf Hinrichtungen habe er erlebt, erklärt Johan Solberg in seiner Mitteilung ans Gericht. Einmal wurden zwei russische Jungen gehängt, wenige Tage nach Heiligabend 1944, direkt neben einem Weihnachtsbaum. Das sei wohl "das Schlimmste" gewesen, was sein Vater erlebt habe, sagt der Sohn.
Als sie mit ihrem Vater in den Siebzigerjahren die Serie "Holocaust" im Fernsehen sahen, fragte der Sohn: "War es wirklich so schlimm?" Da habe der Vater geantwortet: "Nein. Schlimmer."
Es sei nicht möglich, zu erzählen, wie es in Wirklichkeit war, sagt der Sohn. Es gebe nach wie vor Dinge aus der Zeit im KZ, über die sein Vater nicht zu sprechen in der Lage sei. Er sei gebrechlich mit seinen 97 Jahren, aber geistig fit.
"Ich hasse das Nazi-System, aber keinen einzelnen Menschen"
Das Jahr nach Kriegsende sei schwer gewesen für den schwer lungenkranken Vater, obwohl er von einer "starken Familie" aufgefangen worden sei. Um weiterleben zu können, so der Sohn, habe sich der Vater entschlossen, seinen Hass abzuschütteln.
In seiner Erklärung sagt Johan Solberg selbst: "Ich hasse das Nazi-System, aber keinen einzelnen Menschen. Rache löst keine Probleme, sie eskaliert nur neue Probleme. Um für den Frieden der Welt zu arbeiten, müssen wir einander vergeben und uns versöhnen mit dem, was geschehen ist und nach vorne sehen. Ich erzähle meine Geschichte, damit diese grausamen Taten nicht vergessen werden. Lasst uns zusammen verhindern, dass sie sich wiederholen."
Diese Botschaft sei für den Vater der Grund, warum er in diesem Prozess gegen Bruno D. als Zeuge aussagen wollte. Sein Vater habe durch seinen Entschluss, nicht zu hassen und keine Rache zu empfinden, geschafft, "ein gutes Leben mit unserer Mutter zu führen".
Johan Solbachs Kinder geben dem Angeklagten Bruno D. die Hand, bevor sie den Saal verlassen. Es ist eine Geste der Höflichkeit, nicht der Versöhnung. Bruno D. sieht mitgenommen aus. Die Vorsitzende Richterin ruft eine Pause aus. Als die Verhandlung fortgesetzt werden soll, erscheint Bruno D. nicht im Saal. Der 93-Jährige ist für heute nicht mehr verhandlungsfähig. Es ist das erste Mal, dass sich sein Gesundheitszustand im Laufe eines Sitzungstages derart verschlechtert hat. Am Dienstag soll der Prozess weitergehen.